700 Jahre herrschten die Wikinger auf Shetland und Orkney – und haben bis heute ihre Spuren hinterlassen. Zwischen spektakulären Klippen, weidenden Schafen und sanften Hügeln wird das Vermächtnis der berüchtigten Nordmänner lebendig.
Veröffentlicht: 2017
Franziska Hidber
Redaktorin Nordland-MagazinDer Norden hat das Herz von Franziska Hidber, Redaktorin und Reporterin des Nordland-Magazins, im Sturm erobert. Über dem Polarkreis fühlt sich die «Lapinhulla» (Lapplandverrückte) schon wie daheim.
Die Stimmen kommen näher. «Hu-oh, hu-oh. Hu-oh!» Laut und bedrohlich klingt dieser tiefe Singsang oder ist es ein Kriegsruf? – Jetzt ist das Segelschiff zu sehen, es gleitet direkt auf die Anlagestelle zu, das gestreifte Tuch flattert im Wind, gelbe Grashalme zittern im Wind, ein braunes Shetlandpony hebt verwundert den Kopf – und schon ertönt es wieder, kein Singsang mehr, vielmehr ein Brüllen: «Hu-oh! Hu-oh! Hu-ho!» – Kaum hat das Boot den Steg erreicht, springen Männer mit Helmen, runden Schildern und Schwertern heraus und entern mit wehenden Haaren und viel Geschrei die kleine Bucht von Haroldswick auf der nördlichsten Shetland-Insel Unst. Gekreisch, Gelächter, schliesslich klatschen die Zuschauer des Wikingerfestivals begeistert Beifall. Gäbe es das Publikum nicht, könnte diese Szene vor rund 1200 Jahren so gespielt haben. Damals, als die gefürchteten Nordmänner das Eiland an der nördlichsten Spitze des heutigen Grossbritanniens entdeckten, 170 Kilometer nordöstlich vom Festland entfernt. Sie kamen aus Bergen in Norwegen und landeten nach 200 Seemeilen westwärts auf diesem kargen Fleckchen Erde, das sie von Stund an als ihr Eigentum betrachteten. Typisch Wikinger – sie machten ihrem Namen als Seeräuber alle Ehre.
Junge Männer auf Raubzug
Val Turner lacht. Die Archäologin fährt sich durch die Haare, die der Wind immer wieder neu ordnet, und legt einige Silbermünzen fürs Wikingerschachspiel bereit: «Das muss man differenzierter sehen: Tatsächlich waren die ersten Wikinger, die auf die Shetlandund Orkney-Inseln kamen, vor allem junge Männer auf Raubzug.
«Wikinger als Piraten zu bezeichnen, greift zu kurz.»
Ob sie dabei brutaler vorgingen als andere in dieser Zeit, ist umstritten.» Unbestritten jedoch sei: Die Wikinger hatten die besten Schiffe und beherrschten die Seefahrt wie sonst niemand. Val Turner geht voraus zum grossen Wikingerschiff auf dem Festivalgelände – der lange Holzbau ist eine Replik des Gokstad-Schiffs aus dem 9. Jahrhundert, das 1880 in Norwegen entdeckt wurde. Die Ausmasse lassen erahnen, weshalb die Wikinger als Könige der Meere galten: Ihre Schiffe waren robust, bis 36 Meter lang, boten Platz für 60 Leute und erreichten eine Geschwindigkeit von 11 Knoten pro Stunde. «Sie waren Meister im Bootsbau», sagt die Mitorganisatorin des Festivals und schaut mit einem Schmunzeln auf die Kinder, die lachend und kreischend auf dem langen Schiff herumturnen. «Doch die Wikinger als Piraten zu bezeichnen, greift zu kurz. Denn nach den ersten Plünderern kamen die Siedler nach Shetland – Wikinger, die sich hier niederliessen, Häuser bauten und ihren Tätigkeiten nachgingen.» Wir schlendern zum Langhaus hinüber, dem typischen, langen Wikingerhaus aus Stein, in dem eine oder mehrere Familien zusammenlebten und arbeiteten, und treten ein in längst vergangene Zeiten. Ein Mann schmiedet gerade ein Hufeisen über dem Feuer, nebenan entsteht filigraner Silberschmuck, Fleisch ist zum Trocknen aufgehängt, weiter vorne weben zwei Frauen an ihrem Teppich. Wie der Alltag damals aussah, weiss man aufgrund der zahlreichen Funde und Überresten der Häuser. Viele davon wurden auf den Shetland-Inseln entdeckt, die meisten hier auf Unst, aber auch auf der prähistorischen Stätte Jarlshof ganz im Süden der Hauptinsel.
Forsche Übernahme
«Nicht gesichert ist, wie die Übernahme damals gelaufen ist», erzählt Val Turner, die selbst Wikingerblut in ihren Adern hat. «Da sich jedoch Handwerk, Sprache und Kultur auf Shetland rasend schnell veränderten – auch das weiss man anhand analysierter Fundstücke – vermutet man, dass die Wikinger forsch vorgingen.» Andererseits hätten die neuen Herrscher den Inseln zum Fortschritt verholfen: dank besserer Fischerträge, ihrem Faible fürs Handwerk vom Töpfern übers Schmieden bis zum Weben und ihrem goldenen Händchen für den Handel. Bis nach Bagdad und Kanada reichten ihre Handelstouren. Shetland und Orkney erwiesen sich dabei als ideale Stützpunkte auf dem Weg von Norwegen Richtung Süden – es ist die gleiche Route, die auch die Zugvögel nutzen. Kein Wunder, gelten die Inselgruppen als Paradies für Ornithologen – nicht nur wegen der Papageitaucher und Basstölpel. Würde man hier mit Kurs auf Norden ablegen, käme man direkt zum Nordpol. Nordwestlich liegen die Färöer und Island, wo die Wikinger auf ihren Touren nach Grönland oder Kanada gerne Halt machten. Der Handel, den die Nordmänner auf Shetland ins Leben gerufen haben, ist auch heute die pulsierende Lebensader auf der nördlichsten Inselwelt Grossbritanniens: Hier gibt es Erdöl und Fisch, Wolle, Schafe und die weltbekannten Shetlandponys. Doch die Wikinger haben weit mehr hinterlassen: die Sprache zum Beispiel, das Old Norn. Haroldswick etwa heisst Haralds Bucht, die Kirche noch immer Kirk, die Farm Setter.
Doch die Wikinger haben weit mehr hinterlassen, die Sprache zum Beispiel.
Und die in Grossbritannien typischen langen «Blackhouses» sind nichts anderes als die Weiterentwicklung der wikingischen Langhäuser. Am deutlichsten aber, und das wird bei jedem Gespräch spürbar, ist das Vermächtnis der Wikinger bei den Menschen. Val Turner kann das nur bestätigen: «Schottland? Nein, das ist weit weg. Wir fühlen uns skandinavisch, orientieren uns an Norwegen – wir sind Wikinger!» – «Schotte? Nein, nein. Ich bin Shetländer!», sagt kurz darauf auch Bruce, den ich am Fährenterminal von Yell treffe, eine der 16 von 100 bewohnten Inseln des Archipels. Wobei man «bewohnt» deklarieren muss – auf Shetland leben weit mehr Schafe als Menschen. Gerade auf Yell. Ich bin quer über die Insel gefahren, die Sonne tauchte die Hügel in Gold, das Nordmeer lag still und dunkelblau da, und ich begegnete keiner Menschenseele, nur den Schafen. Sie starrten mich freundlich an und trabten danach gemächlich über die Strasse. Bruce nickt wissend: «Eile kennen sie und wir nicht.» Er ist einer von 60 Einwohnern der Nachbarinsel Fetlar: «Das ist Friede pur, Stille und Natur», meint er und schaut sofort für mich nach, wann die nächste Fähre nach Toft auf Mainland, der Hauptinsel, ablegt.
Als käme Harry Potter
Dort, in der Hauptstadt Lerwick, lebt ein Drittel der insgesamt 23 000 Shetländer. Das pittoreske Hafenstädtchen mit seinen spitzen Dächern und den Steinhäusern sieht aus, als sei es einer Märchenwelt entsprungen. Man würde sich nicht wundern, käme demnächst Harry Potter um die Ecke. Sanft schlagen die Wellen an die Hafenmauer, wo jeweils die grossen Schiffe vom Festland eintreffen, sonst ist alles still. «Komm mal Ende Januar», grinst ein junger Einheimischer, «dann feiern wir hier ‹Up Helly Aa›, das grosse Wikingerfest, bei dem ein Wikingerboot verbrannt wird (Agenda Seite 33). Das ist ein riesiges Spektakel. Die meisten Männer lassen sich jetzt schon ihre Bärte wachsen.» Wie die ersten Wikinger, die Shetland enterten, reise ich südwärts weiter nach Orkney. Die Nachbarinseln teilen die Vergangenheit und ein ähnliches Klima – Golfstrom sei Dank ist es erstaunlich mild für den 60. nordischen Breitengrad, aber oft stürmisch mit dramatisch-schönen Stimmungen, wenn der Wind die Wolken über den endlosen Himmel jagt. Beide sind reich an spektakulären Klippen und lieblichen Buchten, die mit ihrem hellen Sand an die Karibik erinnern. Beide haben ihren ursprünglichen Charakter bewahrt. Und doch gibt es Unterschiede: Shetlands karges Gebirge versprüht herben Charme, Orkney dagegen ist eine Saftwurzel mit gut organisierter Landwirtschaft und grünen, satten Hügeln. Die Wikinger haben den Vorteil des fruchtbaren Farmlands auf Anhieb erkannt. Sie erkoren Orkney zum Aussenposten von Shetland, züchteten Rinder und Schafe, bauten Getreide an und tauschten es auf ihren Handelstouren gegen Holz für ihre Boote ein. Denn Bäume gibt es hier kaum – dafür bläst der Wind zu heftig. Das macht die Inselgruppen so weit und öffnet den Blick aufs Meer von beinahe jedem Punkt aus.
Ein Münster für Magnus
Wie am Hafen von Kirkwall, Orkneys lebhafter Hauptstadt mit rund 8500 Einwohnern. «Hier luden die Wikinger ihre Ware auf die Schiffe, da hinten wurde getauscht und gehandelt», erklärt Jane, meine Stadtführerin, und deutet auf die Hafenmeile. Wir stehen am pulsierenden «Shore» mit seinen zahlreichen Cafés, Pubs und kreativen Shops. Jane führt mich durch die malerischen Gässchen zur mächtigen Wikingerkathedrale Sankt Magnus hinauf, ein Prachtsbau aus rotem Sandstein und mit bunten Glasfenstern, den man eher in einer Metropole wie London vermuten würde. «Das hat mit der Beliebtheit des Heiligen Magnus zu tun», sagt Jane, als sie meine Verblüffung bemerkt. «Er war im frühen 12. Jahrhundert Graf von Orkney, zusammen mit seinem Vetter Haakon. Die beiden zerstritten sich, und bei einer Aussprache auf der Insel Egilsay befahl Haakon seinem Koch Lifolf, Magnus mit der Axt zu töten. Magnus starb betend. Sein Neffe Rognvald versprach dem Volk von Orkney, dass er Magnus zu Ehren ein ‹grossartiges Münster aus Stein› bauen werde. 1137 wurde der erste Grundstein gelegt, der Bau zog sich über drei Jahrhunderte hin.» Heute gehört die Kirche den Bewohnern der Orkney-Inseln und wird von diesen verehrt, mehr noch, «geliebt», wie Jane betont. Und während die Magnuskathedrale Meter um Meter wuchs, schwand die starke Position der Wikinger. Nach 700 Jahren zogen sie von Orkney und Shetland ab, wo sie länger herrschten als irgendwo sonst in Schottland. Apropos Schottland: Hätte der dänisch-norwegische
«Schottland? – Nein, das ist weit weg.»
König 1469 genügend Geld gehabt, stünden die Archipele wohl heute noch unter skandinavischer Krone. Aber sein Vermögen war schmal, also gab er die beiden Inseln als Pfand für die Hochzeitsmitgift seiner Tochter Margarethe an den König von Schottland. Während zweier Jahrhunderte versuchten die Skandinavier immer wieder, «ihre Inseln» zurückzukaufen – vergeblich. Seither gehören Shetland und Orkney mit ihrer nordischen Vergangenheit zu Schottland. «Auf dem Papier vielleicht», bemerkt Jane Cook trocken. «Im Herzen sind wir Wikinger.»