Wenn der Sommer geht, kommt für die Einheimischen in Finnisch-Lappland die schönste Zeit: Ruska. Es ist die Zeit der frechen Machos, des sanften Lichts, der Stille und der saftigen Beeren. Dann liegt eine Magie über den weiten Wäldern, den Tunturis und den Seen, die mit Worten nicht zu beschreiben ist, weil sie tiefer reicht.
Veröffentlicht: 2019
Es war Winter, ich stapfte mit den Schneeschuhen durch die Wälder des Nationalparks Pyhä-Luosto, wärmte meine Finger am Feuer und fragte die Menschen, die hier leben, nach ihrer liebsten Jahreszeit. Sie hielten einen Moment inne, ein Glanz erreichte ihre Augen, und dann antworteten sie: «Ruska!» Es war Sommer, ich tanzte an Juhannus unter der Mitternachtssonne am kleinen See Ahvenlampi in Luosto, und zwischen Akkordeonklängen, wehmütigen Liedern, Dartspielen und heissen Würsten stellte ich meine Fragen wieder. Die Frauen und Männer hielten einen Moment inne, ein Glanz erreichte ihre Augen, und dann antworteten sie: «Ruska!»
Franziska Hidber
Redaktorin Nordland-MagazinDer Norden hat das Herz von Franziska Hidber, Redaktorin und Reporterin des Nordland-Magazins, im Sturm erobert. Über dem Polarkreis fühlt sich die «Lapinhulla» (Lapplandverrückte) schon wie daheim.
Die sechste Jahreszeit
Ruska also! Was hat es mit dem Frühherbst in Lappland auf sich? Mit der sechsten von insgesamt acht Jahreszeiten pro Jahr? Denn nach alter samischer Tradition wird nördlich des Polarkreises jede Jahreszeit aufgeteilt in «früh» und «spät», und Rauha oder eben Ruska ist somit der «Herbstsommer». Die Frage liess mir keine Ruhe. Es ist Ruska, ich merke es schon im Flieger. Gesprochen wird ausschliesslich Finnisch; kein Deutsch, kein Schweizerdeutsch, kein Englisch. Kurz vor Rovaniemi winden sich die Flüsse wie dunkelblaue Glitzerschlangen durch die grünen Wälder, und ich befürchte, zu früh zu sein. Wo bleiben die Farben? Doch dann taucht die Spätnachmittagssonne die weite Ebene in ein ungewohntes Licht – weicher als im Sommer, wärmer als Winter. Da beginne ich ihn erstmals zu erahnen, den Zauber von Ruska.
«Die Männchen mit ihren grossen Geweihen fühlen sich im Herbst stärker denn je.»
«Das ist erst der Start», beruhigt mich Tuomas Hietala. «Noch ist es grün, doch die ersten Birken haben schon gelbe Blätter. Mit jedem Tag wird Ruska stärker, du wirst sehen.» Er muss es wissen – nach einiger Zeit in der Fremde ist er nach Luosto zurückgekehrt, seine Heimat im Herzen Lapplands. Hietala, früher als Personaltrainer tätig, hat eine Schwäche für Wintersport, und doch: Noch lieber ist auch ihm Ruska, die Zeit, die jetzt, Anfang September, beginnt. «Ruska vereint alles – die Tage sind lang genug für ausgedehnte Wanderungen. Selbst abends kann man noch mit dem Fischerboot raus, und nachts leuchten die ersten Nordlichter. Die Beeren sind reif, man findet Pilze und die Stimmungen mit den bunten Blättern und den Nebelschwaden, durch die plötzlich die Sonne hervorbricht, sind unbeschreiblich.»
Macho-Rentiere
Auf der Fahrt nach Luosto kreuzen wir gerade mal zwei Autos. Ein einsamer Camper steht auf einem Wanderparkplatz. «Die Saison ist vorüber», kommentiert Tuomas und bremst scharf ab. Schon wieder passiert eine Rentiermutter mit ihrem Kleinen die Strasse, gut vier Monate alt sind die Jungen jetzt. Im Frühherbst bekommt man weit mehr Tiere als üblich zu Gesicht. Am Strassenrand stehen einige Männchen mit riesigen Geweihen und gucken frech ins Auto. Tuomas lacht: «Auch das ist typisch für Ruska. Die Männchen mit ihren grossen Geweihen fühlen sich im Herbst stärker denn je. Das macht sie zutraulich, aber auch unberechenbar. Manche sind in Kampfeslaune und können gar aggressiv werden. Also Abstand halten!» Bald werden die Machos, wie ich sie fortan nenne, ihr Geweih abwerfen. Im Gegensatz zu den Weibchen: Diese behalten es den ganzen Winter über, damit sie die Futterplätze für ihre Jungen verteidigen können.
Wohnen im Wald
Vor einem lindgrünen Holzhaus mitten im Wald hält Tuomas an. Der Strauch bei der Einfahrt trägt bereits rote Blätter, zwischen den weissen Stämmen der Birken ist der Fluss Kitinen zu sehen. «Unser Hausfluss», sagt Tuomas und deutet auf die beiden Boote an der Anlegestelle. Es ist das Sommerhaus von Tuomas’ Eltern, nun lebt er mit seiner Partnerin Sanna Kauppila vorläufig hier, im November kommt ihr Baby zur Welt. «Ein guter Platz für ein Kind», bemerkt Sanna, während sie in der Kota zum Apéro einen Drink mit frischen Heidelbeeren offeriert. Sanna ist in Ostfinnland aufgewachsen, doch ihre Eltern und Grosseltern sind aus dem Norden, und dass sie nun selbst hier lebt, macht die Orientierungsläuferin glücklich. Sie strahlt, als sie ihre Kabisrouladen auftischt, ihr selbst gebackenes dunkles Brot, Moltebeerenkompott und den legendären Leipäjuusto, den Brotkäse aus der Milch von Kühen, die gerade ein Kalb geboren haben. «Unser naturnahes Leben ist unspektakulär, aber es tut gut und entspannt», formuliert sie es. «Das möchten wir unseren Gästen aus aller Welt weitergeben.» Am nächsten Tag nehmen Sanna und Tuomas mich mit zur Wildnishütte aus dem Jahr 1950 im Privatwald, wo Tuomas’ Grossvater vor vierzig Jahren gelebt hat. Wir bahnen uns einen Weg durch Büsche, das hohe Gras und Stauden bis zum kleinen Fluss Kelujoki. Es ist der Lebensraum von Vögeln und Elchen, aber an diesem Vormittag erspähen wir vom Hochsitz weder die einen noch die anderen. Wie Tuomas’ Grossvater, der vom Fischfang lebte, werfen wir die Angel aus. Mein erster Köder landet in den Algen, der zweite im Gras, aber beim dritten Mal taucht der Wurm ins Wasser und schon bald beisst ein Barsch gierig an. Mein Erster! «Der ist noch zu klein», befindet Sanna, löst den Fang mit geschickten Fingern vom Haken und entlässt ihn wieder in die Freiheit – genau wie alle anderen auch. Schon als kleines Mädchen hat auch sie ihre Grosseltern und Eltern zum Fischen begleitet. «Der Fang ist zweitrangig», bemerkt sie. «Es gibt nichts Entspannenders als Fischen für mich.» Ich stimme ihr zu. Ein tiefer Frieden erfüllt mich an diesem stillen Ort, wo die weissen Wolken im Wasser baden und kein Laut zu hören ist und sich die gelben Gräser sanft im Wind wiegen.
Entspannung ohne Fische
Mangels Fisch legen wir in der kleinen Hütte, die aus einem einzigen Raum besteht, Würste übers Feuer. Auf der Holzbank, auf der ich sitze, hat Tuomas’ Grossvater genächtigt; der typische finnische Kaffee blubbert in der russigen Kanne, die Kuksas, die samischen Holztassen, hat der Grossvater selbst gefertigt; und auch die «arktische Toilette», das Pumpsklo im Holzhäuschen, ist original. Kein Luxus, kein Strom, und direkt vor dem Fenster spielen Eichhörnchen. Als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Ich merke, wie wohltuend es ist, sich auf das Wesentliche zu besinnen: ein Feuer, ein Essen, ein Gespräch und rundherum Wald. Zurück beim Sommerhaus tuckern wir im Motorboot dem Ufer des Kitinens entlang. Das Wetter hat gedreht, der Wind aufgefrischt, und während wir auf das berühmte Zucken an der Angel warten, prasselt der erste Regen auf uns nieder und weckt die Vorfreude auf die Sauna, an diesem Abend eine elektrische. So richtig auf den Saunageschmack komme ich am nächsten Tag. Wir fahren 50 Minuten lang ins Nirgendwo, sehen unterwegs bestimmt 15 Rentiere, aber kein einziges Auto. Das Försterhaus ist schwierig zu finden, etwas weiter entfernt steht das kleine falunrote Häuschen, aus dem Kamin steigt Rauch auf und auch drinnen ist zunächst vor lauter Rauch nichts zu erkennen. «Willkommen in der Holzsauna», sagt Sanna mit einem Schmunzeln. Im alten gusseisernen Ofen knackt es laut, im Saunavorraum stehen Kessel und Schöpfkellen bereit – unsere Dusche. Der Rauch verzieht sich, es riecht angenehm nach den Birkenzweigen im Wasser, es zischt, wenn wir einen Löffel Wasser auf die Steine giessen, und als es wirklich warm wird, rennen wir hinunter zum Flüsschen,das von Weitem schwarz wirkt und aus der Nähe glasklar, und gehen mutig bis zu den Oberschenkeln ins zehn Grad kalte Wasser. Sebastian Kneipp hätte seine Freude gehabt! In dieser Nacht schlafe ich wie ein Baby.
«Unser naturnahes Leben ist unspektakulär, aber es tut gut und entspannt.»
Immer bunter
Als ich aufstehe, wirkt der Wald noch bunter. Der Boden sieht mancherorts aus wie ein weisser Flokati – das ist die echte Rentierflechte, auch Rentiermoos genannt, eine Delikatesse für die Tiere. Die Heidelbeerbüsche stehen in einem flammenden Rot. Wir sind mit Eimern und wunderlichem Werkzeug ausstaffiert, so genannten «Beerenpflückern». Sanna lacht: «Am liebsten pflücke ich von Hand, aber damit ist es effizienter.» Unser Tagesziel: Genügend Beeren für den Heidelbeerkuchen zu sammeln, den wir danach backen wollen. Schon nach dreissig Minuten ist der Eimer halbvoll. Doch wir können nicht aufhören. Ausser uns ist kein Mensch in diesem Schlaraffenland, kein Geräusch ist zu hören, nur ab und an flattert ein Vogel auf. «Ich bin im Heidelbeerhimmel!», ruft Tuomas und fährt mit seinem roten Pflücker ein ums andere Mal durch die Stauden. Meter um Meter arbeiten wir uns auf den Hügel vor. Ich bin nicht so schnell wie die anderen. Immer wieder halte ich inne und schaue und staune: dort ein Pilz, hier kunstvolle Flechten, da eine Wurzel wie ein Troll. Dazwischen: pflücken, essen, pflücken, essen. Ich vergesse alles rund um mich, den Tag, die Stunde, drohende Termine. Tuomas mahnt zum Aufbruch und reisst mich aus meiner Entrückung. Zwei Stunden später lassen wir uns den ofenwarmen Kuchen bereits auf der Zunge vergehen.
Ruska im Norden
«Du wirst den Unterschied sofort sehen», prophezeit Tuomas, als wir am nächsten Tag nordwärts Richtung Hetta fahren. Im Pallas- Yllästunturi-Nationalpark ist Ruska schon weiter fortgeschritten. Wir wandern durch einen Zauberwald auf den Keimiötunturi. Baumstämme wurden von Wind und Wetter zu fantastischen Skulpturen geformt, der Waldboden feiert eine Farborgie. Nebelschwaden begleiten uns, an den Tannenästen hängen schwere Regentropfen. Immer wieder wird der Blick frei auf die Seen- und Insellandschaft unter uns. Plötzlich ziehen die Nebelschwaden weiter, und auf einer der unzähligen Inseln zaubert die Sonne einen magischen Fleck hin, er reicht bis zu den Tannen. In diesem Moment hören wir erst einen Vogel rufen, dann das sanfte Bimmeln eines Rentierglöckchens – ein märchenhafter Moment.
Plan B
Hetta empfängt uns mit Regen, die Wolken hängen tief und schwarz, die Tunturis sind im Nebel nur zu erahnen. Tuomas reibt sich die Hände: «An solchen Tagen haben wir in Lappland mit Kota und Sauna immer einen Plan B.» Doch Plan B entpuppt sich als vielfältiger: Wir besuchen die Ausstellung im Visitor Center Hetta, lernen dabei die heimischen Vögel, Flora und Fauna und die Geschichte der Sami kennen, geniessen eine Elch-Lasagne im Museumscafé und lassen uns später vom lokalen Silberschmied den Schmuck zeigen; das Sortiment reicht von filigranen Ohrringen bis zu den mächtigen Broschen im Stil der Sami. Nach der Regennacht ist der Himmel wieder klar, die gelben, orangen und roten Blätter wirken wie frisch gewaschen und kontrastieren mit dem Wasser der unzähligen Seen. Auf dem Weg zum Flughafen denke ich zurück an den Aarnilampi, den kleinen See in Luosto, wo letzte vergessene Kinderschaufeln und -eimerchen am Sandstrand (ja, das gibt es!) vom Sommer erzählten. Ruska heisst Abschied und Vorfreude zugleich. In Rovaniemi tanzten als Vorboten des Winters erste Nordlichter über den Himmel. Als die Tafel «Kittilä» am rechten Strassenrand auftaucht, bewacht von einem Macho mit besonders eindrücklichem Geweih, ziehe ich meine Bilanz: Der Sommer in Finnisch-Lappland mit seinen hellen Nächten ist grossartig in seiner Ausgelassenheit. Der Winter, der dich in seine weisse Daunendecke hüllt, macht sprachlos. Aber Ruska, das ist eine andere Kategorie. Eine, die dich nicht mehr loslässt. Sie berührt mit ihren Farben, ihrer leisen Melancholie, den saftigen Beeren, der Stille und ihrem unvergleichlichen Licht. Sollten Sie mich also nach meiner liebsten Zeit in Lappland fragen, wundern Sie sich nicht über den Glanz in meinen Augen, wenn ich einen Moment innehalte und dann mit «Ruska» antworte.
5 Tipps
1) Wildnishütte im Wald bei Luosto
Mit Sanna und Tuomas auf Schneeschuhen zur orginalen Wildnishütte bei Luosto – ein unvergesslicher Ausflug in Ihren Blockhausferien. Fragen Sie unsere Spezialisten an.
2) Chaga-Tee als Mitbringsel
Der Birkenpilz wächst nur in arktischen Breitengraden. Als Tee getrunken, stärkt er mit seinen Antioxidantien das Immunsystem. Erhältlich in zahlreichen Geschäften und zum Beispiel am Flughafen Kittilä.
3) Wanderung zum Keimiötunturi im Pallas-Yllästunturi- Nationalpark
Nach einem kurzen Aufstieg offenbart sich ein fantastischer Blick über unzählige Inseln und Seen.
4) Café Soma in Levi
Moomin-Tassen, hervorragender Cappuccino und eine Lounge mit finnischem Wohnzimmergefühl dank der Ledercouch und Langlauflatten. Cafesoma.fi
5) Lappländischer Schmuck
In der Silberwerkstatt in Hetta entstehen Unikate – im Shop mit Café findet man Schmuck nach lappländischer Tradition, aber nicht nur. hettasilver.com