Es gibt nichts Erholsameres als Blockhausferien, behauptet Autor Christoph Zurfluh. Weil es das perfekte Naturerlebnis ist. Und weil sich eine Woche in der Finnischen Seenplatte wie zwei anfühlt: Es ist Tag und Nacht hell.
Christoph Zurfluh
Freier JournalistSchon als Teenager bereiste Christoph Zurfluh per Interrail Skandinavien. Später führte ihn seine Arbeit für Kontiki immer wieder dorthin. Die Liebe zum hohen Norden teilen auch seine beiden Kinder.
«Nur immer mit der Ruhe!», ermahne ich mich, tauche das Paddel sanft ins Wasser, ziehe es mit einer fliessenden Bewegung zurück und wieder raus. Viel langsamer jetzt. Ganz entspannt. Ich atme tief durch und schaue über den See, in dem sich die Bäume am Ufer und der blaue Himmel spiegeln. Mittendrin brennt sich der Strahl der untergehenden Sonne in die Wasseroberfläche. Es riecht nach Wald, Wasser und ein bisschen nach dem Feuer, das wir vorher am Strand gemacht haben, um unser Abendessen zu grillieren. Die Forelle, die ich eigenhändig aus dem Wasser gezogen hatte, schmeckte köstlich. «Bin ich eigentlich die Einzige, die hier paddelt?», fragt meine Frau und dreht sich lächelnd zu mir um. Unser Kanu beginnt zu schaukeln, und sie blickt schnell wieder nach vorne. «Wollen wir umkehren?», frage ich, «die Sauna müsste jetzt eigentlich heiss genug sein.» Wir machen einen grossen Bogen und rudern gemütlich zurück ans Ufer. Durch die Bäume sehen wir unser Blockhaus, das einsam im lichten Wald liegt. Unser Basislager für eine entspannte Woche zu zweit. Eine Woche, in der wir nichts müssen und nur eins wollen: uns erholen. Und zur Ruhe kommen.
«Entspannt euch, ihr Zwerge!»
Zur Ruhe kommen ist freilich gar nicht so einfach. Es ging uns wie den meisten: Die Wochen vor den Ferien waren mit Arbeit überfrachtet, die letzten Tage richtiggehend hektisch. Wir packten in aller Eile unsere Siebensachen, merkten schon am Flughafen, dass wir jede Menge vergessen hatten, und ärgerten uns über die anderen zehntausend hektischen Ferienhungrigen, die hier durcheinanderwirbelten. Der Flug allerdings war dann schon mal beruhigend, wenn auch kurz: Knapp drei Stunden von Zürich weg landeten wir in der Finnischen Seenplatte. Und auf der Fahrt im Mietwagen von Joensuu zu unserem Blockhaus brachte uns die weite, grüne, wasserreiche Landschaft vollends zur Vernunft. Die Natur um uns herum schien uns auszulachen: «Was nehmt ihr euch so wichtig, ihr Zwerge? Entspannt euch!»
Nur das tun, worauf man Lust hat
Und genau das haben wir getan. Kaum sind wir in unserem Blockhaus irgendwo im Nirgendwo angekommen, habeich meine Uhr zuunterst im Koffer versteckt. Ich habe mir vorgenommen, meinen verinnerlichten Taktfahrplan zu ignorieren und ganz meinem verdrängten natürlichen Rhythmus zu folgen. Kurz: Einfach das zu tun, worauf ich Lust habe. Und zwar dann, wenn ich Lust dazu habe. Zu lesen, wenn mir danach ist. Durch die unendlichen Wälder zu wandern oder zu biken, wenn ich mich bewegen will. Ins zwanzig Kilometer entfernte Dorf zu fahren, um etwas Leckeres einzukaufen (etwa zuckersüsse finnische Erdbeeren!). Mit Musse zu kochen und jeden Bissen zu geniessen. Zu schlafen, wenn ich müde bin, und raus aus den Federn, wenn ich mich genügend erholt habe. Zu schwimmen, zu faulenzen oder im hauseigenen Kanu auf den (fast) privaten See zu paddeln. Zu jeder Tages und Nachtzeit, denn dunkel wird es hier, so nah am Polarkreis, ohnehin nicht mehr.
Wir ziehen unser Kanu an Land, legen die Paddel rein und suchen – die Hand als Schutz vor der tief stehenden Sonne über den Augen – das Ufer ab. Gestern Abend, als wir noch lange am Strand sassen und schweigend übers Wasser schauten, sahen wir in einiger Distanz einen Elch am Ufer. Wir bildeten uns ein, dass er uns freundlich zunickte, bevor er sich umdrehte und zwischen den Bäumen verschwand. Ob er heute zurückkehrt? Wir warten aneinandergekuschelt eine Viertelstunde, geniessen die Sonne, lauschen der Stille, und als sich einfach kein Elch zeigen will, machen wir uns auf den Weg in die Sauna. Die sollte nun die richtige Temperatur erreicht haben.
Es ist einfach jetzt
Es ist bereits 23 Uhr, als wir nach derersten Schwitzrunde einige Meter im See schwimmen. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, doch wir ertappen uns dabei, wie wir flüstern, um die Stille um uns herum nicht zu stören.
«Was haben wir eigentlich für einen Tag heute?», fragt meine Frau.
«Keine Ahnung», antworte ich. «Mittwoch? Donnerstag?» Egal. Es ist einfach jetzt. Mir wird bewusst, dass ich schon ewig lange nicht mehr so im Moment gelebt habe wie hier. Und dass Zeit der wahre Luxus ist. Diese Zeit verbringen wir am liebsten rund um unser romantisches Haus aus Rundhölzern. Mit dem offenen Kamin im Wohnzimmer und dem kleinen Schlafzimmer, dessen Fenster auf den See hinausgeht. Grad so, als ob es uns immer wieder daran erinnern möchte, rauszugehen und übers Wasser zu paddeln. Und natürlich mit der Sauna, ohne die in Finnland schlicht gar nichts geht. Man sagt: Wenn ein Finne ein Haus baut, fängt er mit der Sauna an. Tatsache ist: Ein Blockhaus ohne Sauna gibt es nicht.
«Wusstest du eigentlich, dass es in Finnland fast eine halbe Million solcher Sommerhäuser gibt?», frage ich meine Frau, die jetzt auf unserer Veranda mit geschlossenen Augen in ihrem Lieblingssessel hängt und das prickelnde Gefühl geniesst, welches das frische Seewasser auf der erhitzten Haut hinterlässt.
«Und wo genau sind die denn alle?», fragt sie gähnend zurück.
«Meistens an einem der 42 000 Seen der Seenplatte», antworte ich lässig. Schliesslich muss ich das Wissen, das ich mir in den ruhigen Lesestunden am See angeeignet habe, auch loswerden. «Blockhausferien sind in Finnland nicht einfach etwas für Touristen aus dem Ausland», doziere ich weiter, «sie sind ein wichtiger Bestandteil der finnischen Lebensart…»
Man sagt: Wenn ein Finne ein Haus baut, fängt er mit der Sauna an.
Im blauen Licht der Dämmerung
Keine Antwort. Keine Reaktion. Ich drehe mich um – und da schläft sie friedlich. Ein entspanntes Lächeln im Gesicht. Ich wickle mein Frotteetuch um mich herum und schlendere noch einmal an den See, der jetzt, um Mitternacht, im blauen Licht der Dämmerung glitzert. Ich überlege mir, ob wir morgen nun doch einmal ins Auto sitzen und einen Ausflug machen sollten. Auf den Panoramaberg Koli beispielsweise, um die beste Aussicht über die Seenplatte zu haben. Oder nach Savonlinna, der hübschen kleinen Stadt mit ihren berühmten Opernfestspielen. «Mal sehen», denke ich mir. Und als ich mich auf den Weg zurück ins Blockhaus mache, werde ich das Gefühl nicht los, dass in meinem Rücken ein Elch am Ufer steht. Und lächelt.