Kann man ein Land essen? Klar, sagen die Schweden und liefern mit «The Edible Country» den Beweis. Das geht so: Man erhält ein Rezept von Sterneköchen, einen Korb mit Zutaten aus der Speisekammer der Natur, einen Kocher, einen Tisch im Wald oder am See – und kocht sein Gourmetmenü selber. Kontiki-Scout Andrea Ullius hat es ausprobiert, dabei einige Nerven verloren und kulinarische Geheimtipps gewonnen.
Eines vorweg: Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, bin ich ziemlich hartnäckig. Diese Einstellung kostete mich diesen Sommer viele Nerven, brachte aber auch mehrFreude und Erkenntnisse mit sich. Ich wollte mir «ums Verrecken» einen Platz an einem Tisch der Aktion «The Edible Country» sichern. Erstens koche ich gerne, und zweitens faszinieren mich nachhaltige Lebensmittel und die Geschichten dahinter.
Veröffentlicht: 2021
Andrea Ullius
BloggerGastautor Andrea Ullius kennt Schweden von seinen unzähligen ausgedehnten Reisen. Über die lauschigsten Plätzchen, das bequemste Hotelbett oder die schönste Aussicht informiert der Partner von Kontiki regelmässig auf seinem Blog www.schwedenhappen.ch.
Beides lässt sich bei «The Edible Country» perfekt kombinieren. Doch das ist nicht so einfach wie gedacht. Bei meinem spontanen Vorhaben manifestierten sich gleich vier Herausforderungen.
- Die Tische sind sehr beliebt und folglich oft ausverkauft.
- Man kann nur an bestimmten Tagen buchen.
- Es ist aktuell aufgrund der Pandemie nicht möglich, als Einzelperson zu reservieren.
- Die Standorte der Tische entsprechen nicht meiner Reiseroute.
Meine Lehre daraus: «The Edible Country» will frühzeitig geplantund gebucht sein. Trotzdem liess ich mich nicht abhalten, spontan einen Platz an einem von insgesamt 23 Tischen im Land zu ergattern.Aber nun von Anfang an.
Autakt für Feinschmecker
Mein Ritual, sobald ich mit meinem kleinen Wohnmobil auf schwedischen Boden gerollt bin: Ich decke mich mit lokalen Lebensmitteln ein. Auf dem Einkaufszettel steht wie immer ein Liter Oatly-Hafermilch. Sie schmeckt hervorragend und ersetzt mir problemlos den Schweizer Kaffeerahm. Die Fabrik von Oatly steht übrigens in Landskrona, unweit von Malmö in der Region Skåne ganz im Süden – auf der anderen Seite der Öresundbrücke liegt Dänemark.
Skåne ist nicht nur der geografische Auftakt für meine Schwedenreise, sondern auch ein kulinarischer. Denn Skåne gilt als absolute Feinschmeckerregion. Nicht umsonst bezeichnet man diesen Landstrich als «Kornkammer Schwedens»: Hier dominiert Landwirtschaft mit Ackerbau, Viehzucht und Gemüseanbau. Zahlreiche Hofläden locken mit lokalen, erntefrischen Produkten. Dass meine Suche nach dem essbaren Land in Skåne beginnt, nehme ich als gutes Zeichen.
«Skåne gilt als absolute Feinschmeckerregion»
Das beste Fleisch, die knackigsten Würste und die würzigste Charcuterie weit und breit finde ich bei Bjärhus Gårdsbutik, wo alle Tiere artgerecht gehalten werden. Bjärhus ist bestrebt, die Tradition der Handwerkskunst mit dem Schutz von Tier und Umwelt zu verbinden. Im Hofladen bekommt man auch eine grosse Auswahl an Bio-Gemüse.
Meine nächste Station ist der Bränneriets Gård. Hier setzt man in erster Linie auf Gemüse und deren schmackhafte Zubereitung – eine Kostprobe wird im Hofcafé serviert. Einige Rezepte findet man auf der Webseite des Hofs.
Zu Steak und Trockenfleisch kommen nun Tomaten, Gurken, selbst gemachtes Ketchup sowie Konfitüre für das Frühstück. Brot darf auch nicht fehlen. Da «mein Tisch» immer noch mehr Vision denn Projekt ist, müssen meine eigenen Kochküsten vorläufig genügen. Ein Tipp gibt mir Hoffnung: Versuch es doch mal bei Vånga 77.1, die machen bei «The Edible Country» auch mit.
Pizza mit Elchsalami
Gesagt, getan. Ich fahre zum Bed & Breakfast Vånga 77.1: ein Ort mit Obstplantage, einem einladenden Bootssteg und lauschigem Garten. «Ja, wir haben zwar ‹einen Tisch›, aber heute steht ein Pizza- kväll auf dem Programm», klärt mich Chefin Margareta auf. Ein Pizza-Abend ist auch cool – ich sage sofort zu und bereue es nicht: Die Elchsalami auf skanischem Mozzarella, produziert vom Bauern nebenan, ist ein Gedicht.
Am nächsten Morgen brauche ich Bewegung. Zur Auswahl stehen ein Marsch auf dem Fernwanderweg Skåneleden oder Kanufahren auf dem Immeln-See. Ich entscheide mich fürs Kanufahren und treffe Jon, den Inhaber des Immeln Canoe Centers. Er vermietet ungefähr 80 Kanus, bietet auch geführte Touren an und legt viel Wert auf Nachhaltigkeit. So limitiert er die Anzahl der Kanus bewusst und sensibilisiert seine Kundschaft für einen rücksichtsvollen Umgang mit der Natur.
Jon paddelt mit mir über sanfte Wellen zu einer kleinen Insel, wo er himmlische Tacos auf dem Camping-Kocher für uns zaubert. Das kommt schon richtig nahe an «meinen Tisch» ran: Draussen in der Natur mit lokalen Lebensmitteln etwas kochen und geniessen. So gut die Tacos auch schmecken, die Suche nach dem richtigen Tisch ist damit noch nicht beendet. Ich beschliesse, mein Glück in Dalarna zu versuchen. Jon gibt mir einen Tipp mit auf den Weg: «Wenn du bei Karlstad vorbeifährst, dann geh zu Artisan Bread. Die backen das beste Brot in Schweden.»
Natürlich fahre ich hin, um kurz darauf festzustellen: Jon hat nicht zu viel versprochen. Ganz anders als beim Brot aus dem Supermarkt beisse ich hier in eine knusprige Rinde. Nun weiss ich zwar, wie das beste Brot von Schweden schmeckt und wo ich es bekomme, aber «meinen» Tisch habe ich noch immer nicht gefunden.
Soll ich überhaupt noch weitersuchen? Oder ist jetzt der Moment gekommen, aufzugeben? Da fällt mir Evert ein, ein Food Scout und guter Bekannter von mir. Wenn jemand weiterhelfen kann, dann er. «Mit einem Tisch kann ich leider auch nicht dienen, aber du musst unbedingt Fredrik Hedlund in Sälen besuchen», bremst Evert meine Euphorie. Und so verabrede ich mich mit Fredrik auf seinem Hof und staune. Der junge Schwede ist Olympiasieger im Kochen des Jahres 2012 und produziert schwedische Sojasauce, Fischsauce und Miso-Paste. Er orientiert sich dabei an der klassischen Herstellung, wie sie in Japan zelebriert wird.
In den Bottichen brodelt es. Die Fermentierung der Bohnen ist in vollem Gange. Fredrik gibt mir eine spezielle Sojasauce zum Probieren. Sie hat sechs Monate in einem Bourbon-Eichenfass gelagert. Ich habe noch nie eine so krasse Geschmacksexplosion im Mund erlebt. Beim Abendessen, das Fredrik auf höchstem Niveau zubereitet, philosophieren wir über Gastronomie und Lebensmittel. «So ‹einen Tisch› könnte ich auch machen», meint er. Das nützt mir zwar nicht viel, aber immerhin schickt er mich mit zwei Tipps auf meine weitere Reise.
Den ersten Tipp setze ich am nächsten Tag um. Ich fahre in den Fulufjället-Nationalpark und wandere zu einem der grössten Wasserfälle in Schweden, dem Njupeskär. Die Landschaft erinnert schon an Lappland – ebenso das karge Fjäll, teilweise bewege ich mich über der Baugrenze.
«Ich habe noch nie eine so krasse Geschmacksexplosion im Mund erlebt.»
Tipp zwei suche ich am nächsten Tag auf: Skedvi Bröd, etwa dreissig Kilometer südlich von Falun. Hier wird Knäckebrot nach alter Tradition im Holzofen gebacken – für mich ist Skedvi Bröd die Nummer eins der Knäckebrote, ich kenne keines, das vergleichbar wäre. In der integrierten Markthalle decke ich mich mit Lebensmitteln für den nächsten Tag ein und mache mich wieder auf den Weg Richtung Süden. Ob Sörmland – Inga Lindström lässt grüssen – einen Tisch für mich haben wird?
Das warten hat ein Ende
In Trosa probiere ich ein Eis bei Bomans und komme zufällig mit Einheimischen in Kontakt, die mir erzählen: «Ja, wir haben auch einen solchen Tisch bei Bergs Gård gebucht.» Mein Puls schlägt höher. Ich surfe auf der Webseite und sehe, dass am nächsten Vormittag tatsächlich noch ein Tisch frei ist. Endlich! Ich juble. Ich buche. Ich tanze. Nein, getanzt habe ich nicht, aber mein Herz hat schon etwas gehüpft.
Pünktlich um halb elf nehme ich meinen Korb mit den Zutaten, einem Outdoor-Kocher, Wasser und Geschirr beim Bergs Gård in Empfang. Dann spaziere ich etwa zehn Minuten einen Naturlehrpfad hoch und finde «meinen Tisch». Nach einem sauberen Mise en Place beginne ich zu kochen. Es gibt einen Eintopf mit Linsen aus Gotland, Gemüse vom Hof und einer Wurst vom Bergs Gård. Der Eintopf gelingt, schmeckt lecker und ich sitze noch eine Zeit lang gemütlich an «meinem Tisch» und lasse die Jagd nach diesem «Heiligen Gral der Kulinarik» Revue passieren. Ziel erreicht! Und darüber hinaus viele kulinarische Leckerbissen, Menschen und Orte kennengelernt. Satt und zufrieden mache ich mich via Gotland auf den Rückweg Richtung Schweiz.
So funktioniert «das essbare Land»: www.visitsweden.com/edible-country