Südschweden

Wo die Fiktion mit der Realität verschmilzt

Spannende Krimis und romantische Liebes-Geschichten aus Südschweden ziehen ein Millionenpublikum in ihren Bann. Ein Besuch der Originalschauplätze offenbart Überraschendes.

Stefan Doppmann

freier Journalist

Am Norden fasziniert den freien Journalisten Stefan Doppmann das Licht: Wie die Sonne im Zusammenspiel mit Wolken und Wasser zu jeder Jahreszeit immer neue zauberhafte Farben, Bilder und Stimmungen erzeugt.

Mit einem sanften Ruck fährt die U-Bahn an und verlässt die Station am Stockholmer Hauptbahnhof. Mein Blick schweift durch den zur Hälfte besetzten Wagen und bleibt auf einem unauffällig gekleideten Mittvierziger haften, der sich scheinbar hoch konzentriert in seine Zeitung vertieft hat. So stellt man sich einen Agenten der «Sektion» vor, jener geheimen Abteilung des Schwedischen Geheimdienstes, die so viel Unheil angerichtet hat. Und die junge Frau mit dem grossflächigen Tattoo auf der Schulter, dem eigenwillig gefärbten Wuschelkopf und den unzähligen schweren Ohrringen, sieht doch aus wie Lisbeth Salander, die brillante Computerhackerin. Vermutlich observiert er sie! Mit einem der Kriminalromane aus Stieg Larssons Trilogie «Millennium» im Handgepäck in Schwedens Hauptstadt unterwegs zu sein, regt zweifellos die Phantasie an. Beim Verlassen der U-Bahn-Station werfe ich noch einmal einen Blick zurück über die Schulter: Man kann nie wissen... Ich treffe Mario Delgado, meinen «Millennium»-Guide, an einer bestimmten Strassenecke der Hornsgatan. Erst als ich mich dieser belebten Stelle nähere, realisiere ich, dass wir kein Erkennungszeichen vereinbart haben. Was wäre passend gewesen? Eine aktuelle Ausgabe des «Aftonbladet» vielleicht, unter den linken Arm geklemmt, den Sportteil nach aussen gekehrt? Wie sich zeigt, sorge ich mich vergebens. Mario strahlt mich schon von weitem an. Vermutlich sehe ich eben doch zu sehr wie ein Tourist aus und nicht wie ein verschlagener Geheimagent.

Die eigene Stadt neu entdeckt

Der gebürtige Mexikaner hat lange in Deutschland gelebt, ehe er vor 15 Jahren seiner Liebe nach Stockholm gefolgt ist. Delgado führt mich an die Schauplätze von Stieg Larssons Roman-Trilogie – ein wahrer Leckerbissen für «Millennium»-Fans. «Kaum war der erste der Romane erschienen, hefteten wir uns an die Fersen der Figuren und pirschten durch die Stadt», erinnert er sich. Dabei erlebten auch die Einheimischen manche Überraschung. So war etwa selbst in Stockholm nur wenigen bekannt, dass es an der Sankt Paulsgatan eine eigene Synagoge für die kleine Gemeinde orthodoxer Juden gibt. Mario Delgado führt mich durch den Stockholmer Stadtteil Södermalm, in dem Stieg Larsson gelebt, gearbeitet und geschrieben hat. Logisch, dass der Autor auch seine Protagonisten Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander hier ansiedelte. Wir sehen die wenig inspirierten Früchte des sozialistischen Wohnbauprogramms der 70-er Jahre, wo Lisbeth aufwuchs, und geniessen aus der Perspektive von Mikaels Wohnung einen wunderbaren Ausblick über Stockholms Wasserwege.

Kulinarische Abenteuer

Die Schilderungen meines Guides hauchen der Fiktion Leben ein. Wir setzen uns mit Mikael ins orientalische Restaurant an der Ecke und begleiten Lisbeth ins Tattoostudio. Auch zeigt er mir, wo die Filmproduktionen von «Millennium» abgedreht wurden und wo der amerikanische Filmregisseur David Fincher eine riesige Regenmaschine herankarren liess, weil an einem bestimmten Drehtag schönstes Sommerwetter herrschte. Vor der Filiale des Lebensmittelgeschäfts 7-Eleven an der Götgatan bleiben wir stehen. «Hier pflegte Lisbeth ‹Billy’s Pan Pizza› einzukaufen», sagt Mario, und hält mir eine leere Verpackung unter die Nase. «Und wie schmeckt sie?», frage ich. «Ich habe sie weggeworfen, so etwas esse ich nicht», lautet die Antwort. Mario fügt hinzu, dass es die einseitige Aufnahme solcher Fertigpizzas in Kombination mit exzessivem Kaffee- und Zigarettenkonsum gewesen sein soll, die Stieg Larssons irdisches Dasein allzu früh beendet habe.

 

 

Wie Wallander

Wo endet die Realität und wo beginnt die Fiktion? Diese Frage stellt sich auch in Ystad. Das Hafenstädtchen in Schwedens äusserstem Süden ist dafür bekannt geworden, dass hier Kriminalkommissar Kurt Wallander die Mörder gleich reihenweise zur Strecke bringt. 

«In zwölf Jahren habe ich bei der Polizei in Ystad ganze vier gewaltsame Todesfälle gezählt», stellt Polizeisprecherin Ewa Gun Westford klar. Im Wesentlichen bestehe die Polizeiarbeit im beschaulichen Landstrich Schonen eher darin, Einbrechern und Enkeltrickbetrügern das Handwerk zu legen sowie betrunkene Lastwagenfahrer abzufangen, fügt sie an. Dass Krimiautor Henning Mankell seinen Helden ausgerechnet in Ystad zahlreiche Gewaltverbrechen aufklären lässt, sorgte hier deshalb anfänglich für Erstaunen. Mittlerweile hat man in der Stadt jedoch die Vorteile dieser Entscheidung erkannt, reisen doch immer mehr Krimifans aus aller Herren Länder an. Sie essen in «Fridolfs Café» ein Heringbrötchen – genau wie Kurt Wallander. Dann schlendern sie am einzigen Alkoholverkaufsladen der Stadt vorbei, den Wallander mit seinem grosszügigen Whiskeykonsum unterstützt, und suchen das schmucke Theater auf, wo ihn die russische Cellistin so sehr verzückt hat. Dabei entdecken sie eine überaus malerische Stadt, die allein schon wegen ihrer stattlichen Fachwerkhäuser, des alten Franziskanerklosters oder der überaus charmanten Strassenzüge eine Reise lohnt.

Authentische Polizeiarbeit

«Wallander hat Ystad viel gebracht. Er hilft aber auch mir persönlich im Berufsleben, weil er das Interesse der Menschen an der Polizeiarbeit weckt», betont Ewa Gun Westford. Dabei hat sie selbst zu diesem Interesse und der grossen Popularität Wallanders beigetragen: Sie hat die Dreharbeiten von Beginn an fachlich begleitet, schliesslich soll der Filmkommissar möglichst authentisch wirken. So machte sie etwa Wallander-Darsteller Krister Henriksson mit dem Polizeijargon vertraut, vermittelte ihm Kenntnisse der Ermittlungsarbeit und brachte ihm das Schiessen bei. «Nur dass kein Polizist auf dieser Welt seine Waffe in der Pultschublade aufbewahrt, konnte ich der Filmcrew nicht ausreden», lacht sie.

Der Polizei tatkräftig zur Hand geht auch Camilla Läckbergs Romanfigur Erica Falck im pittoresken Fjällbacka an der schwedischen Westküste, nahe der norwegischen Grenze. Sie ist mit dem Polizisten Patrik Hedström verheiratet. Jedes Mal, wenn dessen Ermittlungen ins Stocken geraten, erhält er von Erica die entscheidenden Hinweise, um den Fall zu lösen. «Camilla Läckberg hat Fjällbacka berühmt gemacht. Fast alle Einwohner sind stolz auf diesen Erfolg», erklärt Åsa Cuniff, die unter dem Titel «Mordwanderung» Besucher durch den Ort führt. Einzig der örtliche Polizeichef und der Pfarrer hätten Vorbehalte geäussert, fährt sie fort. Dem Gesetzeshüter sei aufgestossen, dass seine Truppe in den Erzählungen zu schlecht wegkomme. Und den Seelenhirten habe irritiert, dass auf dem kleinen Dorffriedhof in den acht bisher erschienenen Bänden fast mehr Exhumierungen durchgeführt worden seien als wohl in der gesamten schwedischen Kriminalgeschichte zusammengezählt.

Aber wenn es die Beweisführung verlangt, heiligt der Zweck die Mittel. Und zu beweisen gibt es in Läckbergs Fjällbacka einiges. Vom windigen Kirchenhügel aus zeigt Åsa mit ausgestrecktem Arm über die Dächer der bunten Holzhäuser hinweg auf die Königskluft hinter dem Dorf, auf den Sprungturm des Freibads sowie in die wunderschöne Schärenlandschaft hinaus und zählt auf, wo bisher überall Leichen gefunden worden sind.

 

 

Ein Schwätzchen mit Camillas Mutter

Beim Abstieg hinunter zur Küstenstrasse erzählt Åsa, dass Camilla Läckberg eigentlich aus Zufall Schriftstellerin geworden sei. «Sie begann nach einem Schreibkurs mit literarischen Fingerübungen, denn in ihrem damaligen Marketingjob fühlte sie sich unterfordert.» Ihre Geschichten handelten in Fjällbacka, weil sie hier aufgewachsen sei und jeden Stein kenne, führt sie aus. Wem wie uns das Glück lacht, dem winkt auf Åsas Tour sogar ein Schwätzchen mit Camilla Läckbergs Mutter. Oft ist diese im winzigen roten Bootshäuschen anzutreffen, das der Schriftstellerin gehört. «Sie freut sich riesig über den Erfolg ihrer Tochter und kommt jedes Mal heraus, wenn sie mich mit Gästen kommen sieht», erklärt Åsa Cuniff.

Ein guter Zeitpunkt für einen Besuch von Fjällbacka ist der September. Das im Sommer belebte Dorf gehört wieder fast den Einheimischen, und es besteht die Chance, dem Filmteam über die Schulter zu blicken, das unter der Spätsommersonne Camilla Läckbergs Geschichten inszeniert. Nach dem Ende der Hauptsaison haben die Einheimischen nun Zeit, in kleine Nebenrollen zu schlüpfen und sich so an der Seite bekannter Schauspieler zu verewigen. Im Umgang mit Filmstars ist Fjällbacka übrigens routiniert. Ab den späten 50-er Jahren kam Schauspielerin Ingrid Bergman jeweils auf die nahe Insel Dannholmen in die Sommerfrische. Unkompliziert kaufte sie im Ort ihre Brötchen ein und posierte geduldig mit den Einheimischen für Erinnerungsfotos. Nach ihrem Tod im Jahr 1982 liess sie auf Dannholmen ihre Asche verstreuen. Eine Büste inmitten der nach ihr benannten Rosen erinnert heute noch im Herzen Fjällbackas an die besondere Beziehung des Weltstars zu diesem Ort.

Zu romantisch für die Schweden

Etwas weniger innig als zu Ingrid Bergman ist die Beziehung der Schweden zu Inga Lindström. Unter diesem Pseudonym verfasst die Drehbuchautorin Christiane Sadlo für das deutsche Fernsehen Vorlagen zu romantischen Spielfilmen. Diese werden in der Provinz Sörmland südlich von Stockholm gedreht. «Den Schweden ist das romantische Bild, das die Inga-Lindström-Filme von ihrem Land zeigen, zu makellos und zu harmonisch», erklärt Ute Rüegg. Die Deutsche ist mit einem Schweizer verheiratet und lebt seit Jahren in Schweden. Als Koordinatorin der Statisten erlebte sie einige Inga-Lindström-Produktionen hautnah.

Wir schlendern in Trosa den fröhlich bemalten Holzhäusern mit ihren gepflegten Gärten entlang, die den verträumt dahin fliessenden Kanal säumen und können gut verstehen, warum die mehr als 50 in diesem Ambiente aufgenommenen Liebesfilme ein Millionenpublikum begeistern. Viele dieser Fernsehzuschauer besuchen Trosa, um dieses schwedische Sommergefühl am eigenen Leib zu erleben, welches die Filme so eindrücklich hervorrufen. Manche sind allerdings etwas enttäuscht, wenn sie etwa feststellen, dass die Bäckerei aus «der Zauber von Sandbergen» eigentlich eine Gaststätte ist, die für die Dreharbeiten umgebaut wurde. Der Schweizer Toni Betschart, der das Lokal Namens «Antons Krog» führt, entschädigt sie dann mit einem schmackhaften Essen und einer seiner zahlreichen Anekdoten über Sein und Schein in der Filmwelt. Beispielsweise jene, wie er einen Drehtag gerettet hat: In der Bäckerei von Sandbergen sollte der Hauptdarsteller frische Brötchen in einen Korb leeren. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit lösten sich jedoch die Marzipanrüebli von der Oberfläche der Brötchen schon bei der ersten Wiederholung der Szene. Ohne die Rüebli schien der ganze Drehtag ins Wasser zu fallen. Verzweiflung ergriff die Filmcrew! Der findige Toni ergriff darauf die Initiative, klebte die Rüebli mit Eigelb wieder fest und fixierte sie mit Haarspray. Der Drehtag war gerettet.

Wieder in der Schweiz, freue ich mich noch mehr als vor der Reise auf Fernsehfilme aus Südschweden. Allerdings rätsle ich nun nicht mehr allzu sehr über den Mörder, oder ob das verliebte Paar nicht doch noch zusammenfindet. Vielmehr halte ich Ausschau nach schmucken Theatern, kleinen roten Bootshäuschen und Marzipanrüebli.

 

 


Ausflug in die Kindheit

Ein Freizeitpark, der verzaubert: «Astrid Lindgrens Welt» entführt die Besucher mitten in die berühmten Geschichten der schwedischen Kinderbuchautorin hinein.

Pippi Langstrumpf, Michel von Lönneberga, Wir Kinder aus Bullerbü, Ronja Räubertochter: Wer sich als Kind dieser Geschichten erfreute, wird sich auch als Erwachsener in «Astrid Lindgrens Welt» zu Hause fühlen. In Vimmerby, der Heimatstadt von Astrid Lindgren, erstreckt sich dieser ganz besondere Freizeitpark über 180 000 Quadratmeter. «Wir wollen das Erbe von Astrid Lindgren wach halten und immer neue Generationen von Kindern an Lindgrens wunderbare Geschichten heranführen», erklärt Nils Magnus Angantyr, Marketingleiter von «Astrid Lindgrens Welt».

Den Kindern gewidmet
Ganz im Sinne der grossen Kinderbuchautorin ist der Park konsequent auf die Kinder ausgerichtet. Neun verschiedene Milieus sind wichtigen Figuren von Astrid Lindgren gewidmet. Immer getreu der Buchvorlagen hat man Pippis Villa Kunterbunt, Michels Hof Kattult und andere Schauplätze nachgebaut und als Freiluftbühnen konzipiert. 125 Profischauspieler und von Theaterpädagogen ausgebildete Kinder inszenieren jeden Tag 55 kürzere und längere bekannte Passagen aus den Kinderbüchern. Davor und danach spielen sie mit den Kindern und unterhalten sich mit ihnen.

«Diese Interaktion ist ein zentraler Teil unseres Konzepts. Die Figuren

werden für die Kinder so direkt erlebbar. Solche Begegnungen prägen sich tief ein», betont Nils Magnus Angantyr.

Der Park gehört heute der Familie Astrid Lindgrens. Ein Programmrat aus Familienmitgliedern und Freunden wacht darüber, dass er sich ganz im Sinn der kinderliebenden Dichterin weiter entwickelt. In der näheren Umgebung von Vimmerby laden auch die originalen Drehplätze der Filme «Michel von Lönneberga» und «Wir Kinder aus Bullerbü» zu einem Besuch ein. Sehenswert ist auch das Astrid-Lindgren-Museum.


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