Zu Fuss ans (wahre) Nordkap

Es ist Sehnsuchtsort, Reiseziel und Lebenstraum, lässt Tränen fliessen und selbst Schwatzhafte verstummen, wenn sie zwischen Wind und Wellen auf dem NordkapPlateau stehen. Doch der wirklich nördlichste Punkt Europas liegt drei Kilometer westlich: Autor Christian Ruch hat den Weg unter die Füsse genommen.

Christian Ruch

Historiker und Journalist

Christian Ruch ist ein grosser Norwegen-Fan und war dort schon 15 Mal. Mit Franziska Hidber schrieb er den Nordkap-Sarganserland-Krimi „Venner“ (Driftwood Verlag, Chur).

Steil ragt der Felsen aus dem Meer auf, weit geht der Blick übers Wasser; und das Wissen, an der Kante Europas zu stehen, entfaltet seine eigene Magie. Man kann sich ihr nicht entziehen, nicht einmal dann, wenn man weiss: Das hier ist eigentlich das «falsche Nordkap». Denn drei Kilometer westlich ragt eine flache, unscheinbare Landzunge 1500 Meter weiter nordwärts in den Nordatlantik und stellt somit das «wahre Nordkap» dar. Zum Vergleich: Der Knivskjellodden, so der Name dieser Landzunge, liegt auf 71° 11’ 08’’″nördlicher Breite, der als Nordkap bekannte Felsen nur auf 71° 10’ 21’’.

Während das «falsche Nordkap» mühelos per Bus, Camper, Auto oder Motorrad zu erreichen ist und zu den beliebten HurtigruteTagesausflügen zählt (allein im Monat Juli posieren durchschnittlich 85 000 Leute unter der weltbekannten Globuskugel), erobern weniger als 2000 Leute im Jahr den nördlichsten Punkt auf dem Knivskjellodden aus eigener Muskelkraft. Zu ihnen gehören meine Partnerin Yvonne und ich.

«Das wird kein Spaziergang»

Rückblende: morgens um Viertel vor sechs an einem Tag im Juli. Ein Blick auf die Wetter-App sagt: Heute soll es noch schön bleiben, ab morgen wird es regnen. Angesichts der launischen Witterung hier oben werfen wir unsere Pläne über den Haufen, nutzen die Gunst der Stunde und setzen uns das «wahre Nordkap» als neues Tagesziel.

Mir ist klar: Das wird kein Spaziergang – 19 Kilometer auf einem Pfad, der mit den geradezu luxuriös anmutenden Wanderwegen in der Schweiz nicht vergleichbar ist. Und Einkehrmöglichkeiten gibt es keine. Deshalb gilt unser erster Stopp dem grossen Supermarkt ausgangs Honningsvåg, wo wir uns mit Proviant eindecken.

«Ein bisschen mulmig ist uns schon zumute.»

Ein bisschen mulmig ist uns schon zumute, als wir am Wanderparkplatz einige Kilometer vor dem touristischen Nordkap eintreffen. Würden wir unser Ziel erreichen? Haben wir genug zu essen und zu trinken dabei? Und ganz wichtig: Würde das Wetter halten, wie es die App versprochen hat? Immerhin merken wir bald, dass wir uns um die Orientierung keine Sorgen zu machen brauchen. Der Weg ist mit der in Norwegen üblichen Wanderwegsignalisation, dem roten T für «Tur», sehr gut markiert, und meistens geht er geradeaus.

Zu unserem Erstaunen treffen wir immer wieder andere Wanderer an. «Wir hoffen, auf der Landzunge mit der Mitternachtssonne belohnt zu werden», erklären uns zwei junge Männer. Ob ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist?

Zunächst führt uns der Pfad leicht rauf und runter, westwärts durch teils sumpfiges Gelände. Wo es zu matschig ist, liegen Bretter. Nach rund drei Kilometern biegen wir scharf nach rechts ab und wandern, wie sich das für ein Nordkap gehört, von da an ausschliesslich nach Norden. Allmählich verliert der Weg an Höhe und folgt einem Trogtal hinunter ans Meer. Knapp einen Kilometer nach zwei kleinen Seen beginnt ein kurzer, aber steiler Abstieg von rund 50 Höhenmetern, wir überqueren einen Bach und befinden uns an der Bucht Knivskjelvika. Was für ein Moment! Zum ersten Mal erblicken wir auf der anderen Seite die majestätische Felskante des «falschen Nordkaps». Wir müssen zugeben, dass dieses optisch wesentlich mehr hermacht als die flache Landzunge, die wir anstreben. Auf zur letzten Etappe! Sie führt uns über wuchtige, aber flache Felsplatten 2000 weitere Meter nordwärts.

«Wir werden mit einer spektakulären Kulisse belohnt.»

Dann haben wir es geschafft! Eine aus Stein geschaffene Markierung teilt uns mit, dass wir nun tatsächlich am «wahren Nordkap» stehen, am nördlichsten Punkt. In einer Metallbox finden wir ein Buch, in dem wir uns eintragen können – ähnlich wie die Gipfelbücher in den Schweizer Bergen. Natürlich fotografiere ich den Eintrag! Schliesslich will ich mir für ein paar Kronen am Campingplatz Skipsfjorden (an der Strasse vom Nordkap nach Honningsvåg gelegen) eine Urkunde ausstellen lassen, die bezeugt, dass ich den nördlichsten Punkt auch tatsächlich erreicht habe.

Doch zunächst einmal heisst es, den Rückweg anzutreten. Noch einmal werden wir reich mit einer spektakulären Wanderkulisse belohnt: Das wilde, raue Fjell der Nordkap-Insel Magerøya, ihre frei weidenden Rentierherden sowie die Ausblicke auf dramatische Fjorde und Felsküsten begleiten uns. Erschöpft, aber glücklich kehren wir zum Wanderparkplatz zurück – glücklich vor allem darüber, eine Wanderung erlebt zu haben, die wir wohl nie vergessen werden.

Der König von Siam war schon hier

Übrigens: Den Nordkap-Felsen zu erreichen, war bis zur Eröffnung der Strasse im Jahr 1956 ebenfalls eine mühselige Angelegenheit. Man musste in die nahe Bucht Hornvika schippern, um dann auf einem steilen Pfad die 200 Höhenmeter zum Plateau zu überwinden. Illustre Gäste wie der König von Siam, der das Nordkap 1907 besuchte, liess sich hinauftragen – für die Träger wahrscheinlich eine schweisstreibende Aufgabe! Jedenfalls ist diesem Besuch in der Nordkaphalle ein eigener Raum gewidmet, der für Gäste aus Thailand eine grosse Bedeutung hat.

Und während man die Landzunge, also das «wahre Nordkap», schon immer gratis betreten konnte, gab es auf dem Felsplateau happige Parkgebühren für alle, die nicht mit Car, Velo oder per Pedes ankamen. Diese Praxis hat die Gemeinde Nordkapp dem Scandic-Konzern als Pächter des Areals im Dezember 2020 untersagt, sodass Scandic stattdessen nun Eintritt für die Nordkaphalle verlangt und sich mit der Gemeinde Nordkapp deswegen einen Rechtsstreit liefert. Man darf gespannt sein, wie das Verfahren ausgehen wird – immerhin ist in Anbetracht von über 200000 Besuchenden pro Jahr sehr viel Geld im Spiel. Aber eben: Wer es einsamer – und kostenlos – liebt, findet mit dem «wahren Nordkap» Knivskjellodden eine mehr als lohnende Alternative.


Die Folge eines zweifachen Irrtums


War in früheren Jahrzehnten vor allem Hammerfest als die angeblich «nördlichste Stadt Europas» (wenn nicht sogar der Welt) Sehnsuchtsziel vieler Norwegen-Touristen, ist es mittlerweile vor allem das Nordkap, das seit der Eröffnung des Tunnels zwischen Magerøya und dem Festland im Jahr 1999 um einiges einfacher zu erreichen ist als mit der seinerzeit häufig überlasteten Fähre. Und dass es sich beim berühmten Felsen nicht um das tatsächliche Nordkap handelt, ist für viele wohl zweitrangig. Hauptsache, man hat sich den Traum, einmal im Leben «ganz da oben» an der Kante Europas zu stehen, erfüllt! Immerhin ist es von hier näher zum Nordpol als zur norwegischen Hauptstadt Oslo.

Trotzdem ist und bleibt die Popularität des Nordkaps die Folge eines gleich zweifachen Irrtums: Als der englische Seefahrer Richard Chancellor auf der Suche nach der Nordost-Passage nach China im Jahr 1553 den damals als Knyskanes bezeichneten Felsen passierte, glaubte er zum einen, dass es sich um Festland handle, zum anderen bemerkte er offenbar nicht, dass es da noch eine Landzunge gab, die weiter nach Norden reichte. Chancellor gab dem Felsen den Namen Nordkap, der sich schon bald auf Karten wiederfand. Damit war der Irrtum in der Welt.

Der nördlichste Festlandspunkt ist übrigens die Felsspitze Kinnarodden, die zu Fuss zu erreichen noch weitaus mühseliger ist als das «wahre Nordkap». Trotzdem gibt es eine sehr bequeme Möglichkeit, um dieses «Festland-Nordkap» zu bestaunen: An Bord eines Schiffes auf der Hurtigruten- oder Havila-Schiffe passiert man es auf der Fahrt von Kjøllefjord nach Mehamn.

 


Wandern auf der Nordkap-Insel

Magerøya punktet über den Knivskjellodden hinaus mit Wandermöglichkeiten.

 

  • In Skarsvåg, dem zum Nordkap nächsten Dorf, beginnt ein einfacher und kurzer Pfad zum Felsentor Kirkeporten mit tollem Blick zum Nordkap-Plateau.
  • Von Honningsvågs Nachbarort Nordvågen führt ein Weg in die Bucht von Kjelvik – einst der bedeutendste Ort der Insel, heute nur noch eine Ansammlung von Ferienhäusern.
  • In Honningsvåg selbst kann man auf den 300 Meter hohen Storefjell oder etwas weniger streng durch das Elvedal zum kleinen See Prestvatn wandern.
  • Das Nordkap ist ausserdem Startpunkt des rund 8000 Kilometer langen Europäischen Fernwanderwegs E1 durch Schweden, Dänemark, Deutschland und die Schweiz zum Capo Passero auf Sizilien. Auf Magerøya führt er quer durch die wildromantische Einsamkeit der Insel, was aber auf dem Abschnitt zwischen der Nordkapstrasse und der Bucht von Sarnespollen gute Orientierungsfähigkeiten und eine dementsprechende Ausrüstung verlangt.

Magerøya – mehr als nur Nordkap

Das Nordkap liegt auf der Insel Magerøya (zu Deutsch karge Insel), die mit 436 Quadratkilometern etwas kleiner ist als der Kanton Obwalden. Mit dem Festland verbindet sie ein fast sieben Kilometer langer Tunnel unter dem Meer. Die stark zerklüftete Insel zählt neben dem Hauptort und Hurtigrute-Hafen-Hafen Honningsvåg eine Handvoll kleine Fischerdörfer.

Wer Magerøya nur durchs Busfenster auf dem Weg zur Nordkap-Plattform sieht, verpasst etwas. Denn auf der kleinen Insel gibt es viel zu entdecken. 

 

  • In Gjesvær locken vogelkundliche Exkursionen zu den vorgelagerten Inseln. 
  • Im winzigen Kamøyvær befindet sich die Galerie der vor 25 Jahren ausgewanderten deutschen Künstlerin Eva Schmutterer. 
  • In Skarsvåg trifft man mit etwas Glück auf grössere Rentierherden, die gemütlich durch das winzige Dorf wandern. Und wenn nicht, gibt es hier immerhin das kuschelige «Weihnachts- und Winterhaus», wo man Selbstgefertigtes aus der Region findet und mit leckeren Waffeln und heissen Getränken verwöhnt wird.
  • Einen weiteren Weihnachtsladen findet man in Honningsvåg am Hafen. Dort gibt es ausserdem ein gut gestaltetes Nordkap-Museum, das über die wechselvolle Geschichte der Insel Auskunft gibt. 
  • Und wer einmal in einem etwas anderen Ambiente Kaffee und Kuchen geniessen will, kann an Tagen, an denen die nordgehenden Schiffe auf der Hurtigrute in Honningsvåg für mehrere Stunden ankern, das Schiffsrestaurant an Bord besuchen. Der Zutritt ist gratis.
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