Was vor 6000 Jahren mit Felszeichnungen begann, inspiriert das nordische Design bis heute: Symbolik, Handwerk und Schmuck der Ureinwohner Lapplands sind populärer denn je. Selbst die Landschaft, weit und wild, präsentiert sich wie ein Bijou.
Veröffentlicht: 2016
Franziska Hidber
Redaktorin Nordland-MagazinDer Norden hat das Herz von Franziska Hidber, Redaktorin und Reporterin des Nordland-Magazins, im Sturm erobert. Über dem Polarkreis fühlt sich die «Lapinhulla» (Lapplandverrückte) schon wie daheim.
Alta, Nordnorwegen. Der Bogen ist gespannt, der Schütze zielt direkt auf eine Herde Rentiere. Gleich wird der Pfeil fliegen. Weiter unten steht ein Elch, die Hinterbeine scheinen in einer Falle zu stecken. Jemand hält ihm einen Stab ins Maul. «Vermutlich handelt es sich um einen Schamanenstab», bemerkt Sébastian, unser Guide. Wir stehen vor den Felsen beim Museum in Alta, Norwegisch-Lappland, 230 Kilometer vom Nordkap entfernt. Hier geht die Sonne vom 16. Mai bis 26. Juli gar nicht unter. Der Blick schweift auf den mächtigen Altafjord: Er liegt wie ein geheimnisvoll glitzernder Teppich inmitten der Hügel und am Himmel lässt der norwegische Wettergott dramatische Wolken in allen Blau- bis Schwarzschattierungen auffahren. Ein Bild wie aus einem Film. An diesem mystischen Ort wird der Bogenschütze seinen Pfeil nie abschiessen – er wurde vor 6000 Jahren von den Sami, den Ureinwohnern Lapplands, in den Fels gemeisselt. Wie der Elch. Und wie die Bären, Füchse, Gänse, Vögel, Fische, Hasen, Schwäne, Wale, Boote, Frauen, Männer und Kinder. Die ältesten Zeichnungen sind 6200, die jüngsten 2000 Jahre alt. Da, wo uns heute der Wind um die Ohren fegt, kamen einst die Jäger und Fischer mehrmals im Jahr zusammen und hielten ihre Rituale ab. «Sie dankten den Göttern für die Hilfe und stimmten sie gnädig für die Zukunft», sagt Sébastian. Die nachträglich mit roter Farbe ausgemalten Jagd- und Fischereiszenen sind Zeugen der mythologischen Welt, in der die Menschen damals lebten. Der Strand von Alta bot sich an für die Verbindung der Unterwelt (Wasser, Götter) mit der Mittelwelt (Erde). Über den Holzsteg gehen wir weiter, links und rechts gucken die Heidelbeeren blau hervor, auf dem Fjord kräuseln sich weisse Schaumkronen, erste Tropfen fallen. Im Museum oben am Hang treffe ich einige der Motive zum zweiten Mal – sie zieren die schamanischen Trommeln der Sami. Manchmal sind es bis zu 70 Sujets: so viele wie auf keiner anderen Trommel der Welt. Sie werden diese Reise begleiten.
Nur grün, blau und weiss
Wir fahren nach Kautokeino. Kurz nach Alta schlängelt sich die Strasse in schmalen Kurven zwischen steilen Felswänden hindurch und an Wasserfällen und rosa Weideröschen vorbei. Danach wird die Landschaft weitläufiger. Typisch Tundra: Kleine Birken stehen dicht an dicht, ihre hellgrünen Blätter glänzen. Heute schickt der Wettergott einen hellblauen Himmel und weisse Wolken, sie spiegeln sich in den unzähligen Seen, wo das flauschige Wollgras am Wasser wächst. Es gibt über weite Strecken keine Häuser, kaum ein Auto. Nur grün, blau und weiss, sowie Stille und ein verlassenes Holzzelt, eine Kota. Ich stelle mir vor, wie die Sami – damals noch Nomaden und Jäger – in dieser Abgeschiedenheit überlebt haben, wie sie den Rentieren gefolgt sind.
Kautokeino, Nordnorwegen, Finnmark
Von der Anhöhe sieht man auf die «Hauptstadt der Sami», den Kultur- und Begegnungsort des indigenen Volkes und mit fast 10 000 Quadratkilometern die grösste Kommune Norwegens. Träg und dunkel fliesst der Fluss Kautokeinoelva durch das 3000-Seelen-Dorf und trennt es in zwei Teile. In der roten Kirche wird jedes Frühjahr ausgiebig konfirmiert, geheiratet und Ostern gefeiert, bevor sich die Rentierhirten mit ihren Herden wieder auf den Weg machen. Ein Drittel der Einwohner lebt heute noch von der Rentierzucht, 85 Prozent sprechen die samische Sprache, es gibt samische Schulen und jeden Winter das legendäre Kino ganz aus Eis – gezeigt werden Werke von einheimischen Filmemachern. Als die Deutsche Regine Juhl vor 60 Jahren hier ankam, war es Winter und kalt, doch die junge Frau rollte entschlossen ihren Schlafsack aus und gedachte zu bleiben. Schon während ihre Freundinnen in der Schule Französisch paukten, lernte sie lieber Norwegisch. Und statt von Paris träumte sie von Lappland. «Will ich Kultur oder Natur in meinem Leben?», hatte sie sich gefragt und sich für die Natur entschieden. Sie brach ihre Schauspielausbildung ab, packte den Schlafsack ein und schlug sich bis nach Kautokeino durch.
Silberschmuck als Zahlungsmittel
Dort traf sie eines Tages Frank, einen dänischen Künstler. Die beiden verliebten sich und fällten einen verrückten Entscheid: Sie wollten sich hier niederlassen, heiraten, ein Haus bauen, mit den Sami leben, für sie arbeiten. Die Einheimischen nämlich hatten das künstlerische und handwerkliche Talent des Paares rasch erkannt und baten es, ihren Silberschmuck zu reparieren, den sie auf den Märkten in der Region von den Kaufmännern als Zahlungsmittel für Rentierfelle oder -leder erhalten hatten. Schon immer war Silber ihr einziger Reichtum gewesen – als Nomaden konnten sie weder Villen bauen noch schwere Gewichte mit sich tragen. Regine und Frank Juhl liessen sich darauf ein, gingen nach Dänemark, lernten den Beruf des Goldschmieds, kehrten zurück, eröffneten ihre Werkstatt. Man schrieb das Jahr 1959. Schnell sprach es sich in ganz Lappland herum, dass man bei Juhls traditionellen samischen Silberschmuck kaufen oder nach eigenem Gusto entwerfen lassen konnte. Heute noch sind viele der Stammkunden Sami, doch längst kommen auch Touristen aus allen Erdteilen.
Und statt von Paris träumte sie von Lappland.
17 Arbeits- und Ausbildungsplätze umfasst die Silberwerkstatt im Untergeschoss inzwischen und zum Sortiment gehören längst auch moderne Kollektionen.
An diesem Augustmorgen sitzen Regine und Frank vor ihrem Haus, «Juhl’s Silvergallery», liebevoll «Oase in der Tundra» genannt. Raum für Raum haben sie selbst entworfen und gebaut, das künstlerische Bauwerk mit den schwungvoll nach unten gebogenen Dächern – einer Schneewehe nachempfunden – ist Heimat und Lebenswerk zugleich geworden. Regine Juhl hat das 70. Lebensjahr längst überschritten, doch ihre blauen Augen blitzen wie die eines jungen Mädchens, wenn sie von ihrem Leben erzählt und vom Moment, als sie erstmals mit den Sami das Design der Broschen und Anhänger besprochen hatte: «Das war ein Wendepunkt für sie. Vorher mussten sie mit dem Vorlieb nehmen, was sie von ihren Käufern bekamen, nun konnten sie ihre eigenen Wünsche einbringen, ein unfassbares Glück.»
Nur Natur und Rentiere
Sie geht voran ins ursprüngliche Haus, es ist den Anfängen der Sami-Kultur gewidmet. Die zierliche Frau weist auf kunstvoll gearbeitete Löffel und Schmuckanhänger aus Rentiergeweih mit eingeritzten filigranen Mustern hin, auf Butterdosen aus Holz, ebenfalls mit Mustern versehen, auf Lederbeutel, auf die berühmten Holztassen mit dem markanten Henkel, in Finnisch-Lappland Kuksa genannt, und auf Messer; alles virtuos gestaltet. Ich begegne den Ursymbolen der Sami zum dritten Mal. «Die Menschen hatten nichts als die Natur und die Rentiere – daraus haben sie all das geschaffen», sagt Regine Juhl, und ihr Respekt dringt aus jedem Wort.
«Stellen Sie sich das bloss nicht zu romantisch vor!»
Aber wie kann es sein, dass ein Volk wie die Sami, als Nomaden in dieser unwirtlichen Gegend lebend, noch Zeit und Inspirationen fanden für solch detailverliebte Verzierungen?
Sie lacht und verwirft die Hände: «Stellen Sie sich das bloss nicht zu romantisch vor! Jedes Volk, jede Gruppe hat ihre Künstler; Menschen, die schöpferisch tätig sein wollen und können – oder es als ihre Aufgabe betrachten, diese Gabe einzubringen.» Sie selbst habe sich bei ihrem Schmuckdesign von Anfang an inspirieren lassen von der Natur in der Tundra. «Jetzt lebe ich schon so lange hier oben und trotzdem bin ich immer wieder hin und weg, wenn im Frühling die Birken spriessen. Das prägt meinen Schmuck.»
Wieder dieses Lachen. Als wir uns verabschieden, glitzert die grosse Goldskulptur vor der Oase im Sonnenlicht und an meinem Finger glänzt silbern der soeben gekaufte Ring aus der neusten Kollektion – seine Struktur ist den Flechten nachempfunden, dem Hauptnahrungsmittel der Rentiere im Winter. Selbst im aktuellen Sortiment bin ich auf die Motive der Sami gestossen, zum vierten Mal. Wir fahren nach Lemmenjoki in der Nähe von Inari, dem Zentrum der Sami in Finnisch-Lappland. Der Himmel verdunkelt sich, die Wolken veranstalten einen Wettlauf mit dem Regen, aber noch hält die Sommersonne dagegen. Der Wettergott im hohen Norden hat zweifellos Sinn für Dramatik und Lapplands weiter Himmel bietet ihm eine grandiose Bühne. Als wir in diesem magischen Licht Richtung Finnland fahren, spannt sich plötzlich ein Regenbogen über die Birken. Und als wüsste die Natur, dass hier die Landesgrenze verläuft, werden kurz vor Finnland die Birken weniger, die Tannen mehr, es reiht sich See an See.
Lemmenjoki, Finnisch-Lappland
«Ateljee» steht auf der Holztafel vor dem roten Haus. Unten am Hang singt der Fluss Lemmenjoki (übersetzt Fluss der Liebe) sein Liebeslied, vier Kanus stehen am Ufer bereit, Rentiere weiden, neben dem Gästehaus steht ein Liegestuhl. In dieser Idylle wohnt und wirkt die international erfolgreiche Filzkünstlerin Kaija Paltto. Soeben tritt sie unter die Tür, blinzelt gegen die Sonne an und verabschiedet eine Gruppe Gäste aus Deutschland, ihr Filz-Workshop ist beendet. Im Ausstellungsraum hängen ihre Wandbilder aus Filz: Da ist ein Rentier vor der leuchtenden Mitternachtssonne zu sehen, die hoch über den grünen Hügeln Lapplands in den roten Himmel hinein strahlt. «Eine Australierin sagte, das Bild erinnere sie an ihre Heimat», schmunzelt Kaija.
Sie hat ihre Werke schon in Abu Dhabi und vielen Ländern Europas ausgestellt und die ursprünglich türkische Rolltechnik des Filzens in Finnland populär gemacht. Ob Gilets, Wandbilder, Taschen oder Rucksäcke: Kaijas gefilzte Sujets erzählen vom Leben der Sami im Rhythmus mit den Rentieren und der Natur, vom Polarlicht und den hellen Nächten, von den Seen und Pflanzen, dem bunten Herbst (Ruska) und dem weissen Winter in der weiten Wildnis und vom unendlichen Himmel – ich erkenne die Motive der ersten Sami zum fünften Mal wieder. Sie sind auch Symbole für Kaijas Leben: Die Finnin ist mit dem Sami Heikki Paltto verheiratet und hat mit ihm drei Kinder grossgezogen. Heikki, Rentierzüchter und Guide, fährt gerade mit Gästen zum Goldwaschen. Und er zeigt ihnen seine Rentiere, seine Heimat und seine Kultur, die ihm lieb und wertvoll ist. Auf diesem Grundstück ist er aufgewachsen. Als Kind wurde er ausgelacht, weil seine Muttersprache Samisch ist und er bei Schulbeginn nur wenige Brocken Finnisch beherrschte. Seinen Kindern erging es besser: Sie besuchten den samischen Unterricht, durften ihre Kultur leben. Damit das so bleibt, engagiert sich Heikki Paltto als Präsident des Sami-Parlaments in Inari. Es ist die offizielle Stimme und Interessensvertretung der Sami in Finnland, das Pendant zu den Parlamenten in Karasjok (Norwegen) und Kiruna (Schweden).
Die Tradition lebt weiter
Kaija – keine gebürtige Samin – ist durch ihren Mann tief in die Kultur eingetaucht. Im Türrahmen hat sie die ersten Rentierlederschuhe ihrer Kinder aufgehängt. Sie nimmt ein Paar in die Hände: «Schau hier – die hat mein Jüngster täglich draussen bei Schnee und Eis getragen, als er das Laufen gelernt hatte, und sie haben keinen einzigen Riss.» Ausgestopft sind die Schuhe nach samischer Tradition mit getrocknetem Gras. «Das hält die Füsse wärmer als Socken», sagt Kaija. Sie hat alle Schuhe der Kinder selbst gemacht. «Es ist ein Krampf!», gesteht sie seufzend. Zwei Tage benötigt sie allein für die Vorbereitung des Leders.
Ein Foto an der hellen Holzwand zeigt die Familie Paltto bei der Konfirmation des jüngsten Sohnes – alle in Tracht, alle in den Schuhen aus Rentierleder, der Konfirmand trägt mit Stolz seinen ersten Ledergurt mit den silbernen Verzierungen, die runde Form steht für ledig, die Tochter hat kürzlich die zweite Brosche zur Matura erhalten, die erste gab es zur Konfirmation. Die Schuhe, die Trachten, die Gürtel – Kaija hat in tagelanger Handarbeit die ganze Familie ausstaffiert. «Eine Samin hat mir das Nähen der Kleider und Schuhe beigebracht», erzählt sie und holt ihre neue Sommertracht in Rot und Violett, ebenfalls eine Eigenkreation. Doch Kaija, die handwerklich Begabte, näht nicht nur aus Freude am Tun: «Die Lederschuhe und Trachten wären sonst unerschwinglich», sagt sie. «Wer niemanden kennt, der sie nähen kann, ist aufgeschmissen.»
«Es ist ein Krampf!», gesteht sie seufzend.
Im nahen Inari werden die alten Kulturtechniken der Sami deshalb am «Sami Education Institute» unterrichtet. Der Andrang ist so gross, dass die Schule ein Aufnahmeverfahren einführen musste. Junge Menschen aus ganz Finnland lernen hier das traditionelle Handwerk. Je nach Fachrichtung erarbeiten sie Schmuck, Lederwaren, Textilien oder Gefässe aus Holz. Und erleben dabei zum Beispiel, dass es vom Schlagen der Birkenknolle bis zur fertigen Holztasse, der Kuksa, insgesamt fünf Monate dauert. Oder wie anstrengend sich das Gerben des Leders oder das Nähen der Schuhe von Hand gestaltet. Oder wie viele Durchgänge es braucht, bis ein buntes Band gewebt ist. Denn Computer hin, Maschinen her – beides ist in den Schulzimmern vorhanden – zur Kernkompetenz gehört hier die ursprüngliche Handarbeit.
Dass diese Tradition weitergeführt wird, ist Kaija Paltto wichtig. Bereits fertigt sie die nächsten Schuhe an – diesmal für die Enkelkinder. Auch sie sollen das schöne Erbe ihrer Kultur weitertragen, im wahrsten Sinne des Wortes. Davon haben die Vorfahren der Kleinen nichts geahnt, als sie in Alta ihre Botschaften für die Götter hinterliessen. Auch nicht, wie begehrt ihre Motive Tausende Jahre später noch sein werden – bei den Einheimischen ebenso wie bei den Gästen. Allenfalls könnte man den Wettergott zu den Mitwissern zählen. Ihm scheint der Fortbestand der Traditionen zu gefallen. Als ich das «Ateljee» verlasse, schiebt er die Restwolken rigoros zur Seite und spannt über den Tannenspitzen einen tiefblauen Himmel auf.
DAS LABEL FÜR SAMISCHES HANDWERK
Souvenirs gibt es in Lappland viele zu kaufen, aber welche stammen tatsächlich aus einheimischer Produktion? Das Sámi Duodji sorgt für Klarheit: Es steht für lokale Herstellung und traditionelles Handwerk. Mit dem Kauf fördert man regionale Arbeitsplätze und den Fortbestand des kulturellen Schaffens – und man nimmt ein echtes Stück Lappland nach Hause.