Finnisch-Lappland

Was finnische Herzen erwärmt

Winter in Finnisch Lappland: Für die Gäste eine Wunderwelt, doch wie sehen das die Einheimischen? Was steigert ihr Glück, wenn die Temperaturen fallen? Eine märchenhafte Suche nach Antworten zwischen Tiefschnee und Sternenhimmel.

Veröffentlicht: 2014

Franziska Hidber

Redaktorin Nordland-Magazin

Der Norden hat das Herz von Franziska Hidber, Redaktorin und Reporterin des Nordland-Magazins, im Sturm erobert. Über dem Polarkreis fühlt sich die «Lapinhulla» (Lapplandverrückte) schon wie daheim.

Wir schwitzen. Es ist minus 22 Grad, und am liebsten würden wir unsere Mützen sofort vom Kopf reissen. «Tut das nicht», rät Juhani, unser Guide. Er öffnet seinen Rucksack, zieht eine Thermoskanne hervor und füllt den dampfenden Beerensaft in die Kuksas, die hölzernen Tassen. Wir befinden uns im Nationalpark von Luosto, auf der Anhöhe des Luostotunturis, 140 Kilometer nördlich des Polarkreises. Vor eineinhalb Stunden sind wir mit den Schneeschuhen losgestapft, Schritt für Schritt durch diesen Schnee gewandert, der glitzert, als hätte Frau Holle persönlich Silberglimmer ausgestreut. Vorbei an den Spuren von Füchsen, Schneehasen und -hühnern, an Tannen, die bis zu 100 Kilogramm Schnee tragen und immer kleiner werden, je näher wir zur Baumgrenze kommen. Nun sehen sie aus wie geheimnisvolle Skulpturen, über und über mit Schnee bedeckt.

«In dieser Natur kannst du nur glücklich sein.»

Wir sind keiner Menschenseele begegnet, haben nichts anderes gehört als das Knirschen unserer Schritte. «So ist das hier», sagt Juhani zufrieden. «Du öffnest die Haustür und stehst im Schneeparadies. Und dann ziehst du los und hast diese grandiose Natur und diese endlosen Wege für dich allein. Kein Gedränge, kein Geschubse, kein Anstehen.» Juhani muss es wissen: Er ist aus Helsinki hergezogen und erlebt den zweiten Winter als Guide für den Aktivanbieter Snow Games im kleinen Ferienort Luosto. Gerade mal 60 Leute wohnen hier das Jahr über.

Juhani packt die Kuksas ein und mahnt zum Aufbruch. Wir aber bleiben stehen wie ungehorsame Kinder. Wir können den Blick nicht lösen von diesem Spektakel, das der Himmel gerade veranstaltet: Er taucht den Horizont in rosa, orange und gelbe Streifen, lässt die Farben ineinander fliessen und zaubert ein Aquarell. Das ist es also, das magische Licht des Nordens.

In diesem Moment durchbrechen Vogelrufe die Stille. «Schaut, ein Kuukkeli, der Glücksvogel der Samen.» Juhani deutet auf den fröhlichen Sänger zuoberst auf einer Tanne. «Wenn ihr ihn füttert, wird er euch die ganze Zeit folgen – ein glücklicher Vogel für glückliche Leute.» Apropos: «Juhani, zählst du dich zu den glücklichen Menschen?» Die Antwort kommt pfeilschnell: «Ja, und wie. In dieser Natur kannst du nur glücklich sein.» – Und was macht die Gäste glücklich? «Na, wir Guides. Weil wir immer so entspannt sind und blendend gelaunt», sagt er und lacht schallend. «Im Ernst, das habe ich diesen Winter schon oft gehört. Aber hey, gibt es hier irgendeinen Grund für Stress?»

Motorschlitten-Safari, 9.30 Uhr

«Kein Stress, bleibt ganz entspannt. Fährt in eurem Tempo, dann kommt es gut. Und achtet auf das Handzeichen eures Vorfahrers. Alles klar?» Die Instruktionen sind beendet, Tuomas wirft einen Blick in die Runde. Wir nicken. «Okay – let’s go», ruft unser Guide und klatscht mit seinen dicken Handschuhen in die Hände. Es ist meine erste Motorschlitten-Safari. Auch für Thomas aus unserer Gruppe ist es eine Premiere: «Für mich geht heute ein Bubentraum in Erfüllung», sagt er und steigt auf. In der Nacht hat es geschneit, noch ist die Sonne erst zu erahnen hinter den dunkeln Tannen. Ich klappe das Helmscharnier hinunter. Im winddichten Anzug fühle ich mich zwar wie ein Pirelli-Männchen, doch Hauptsache, er hält warm. Jetzt erlebe ich das liebste Fortbewegungsmittel der Nordländer endlich live. Zuerst zuckeln wir mit knapp zwanzig Stundenkilometern auf schmalen Waldwegen, preschen später über die Piste auf dem freien Feld. Es geht einfacher als gedacht, das Gefährt ist stabil, der Schnee eine ideale Unterlage, der Wind hat nachgelassen, und in Gedanken lege ich dem Erfinder der Lenkund Fussheizung einen Lorbeerkranz um. Wieder begegnen wir niemandem. Dabei ist Lappland ein Eldorado für Motorschlittenfahrer: 20 000 Kilometer präparierte Wege gibt es hier, erfahren wir bei der Pause in der Kota.

Die einfache Grillhütte aus Holz steht mitten im Wald und ist den Samenzelten nachempfunden. Als die Samen noch nicht sesshaft waren, boten die Kotas ihnen Unterschlupf und Wärme. Heute sind Kotas mit ihren eingebauten Feuerstellen vor allem als Treffpunkt für Grillfeste oder als kleine Cafés begehrt. Mit geübten Handgriffen entfacht Tuomas ein Feuer, serviert Kaffee, Tee und Zimtbrot, und kündigt den Höhepunkt an: «Nachher fahren wir über den gefrorenen Fluss, da könnt ihr richtig Gas geben.» Und so brettern wir alsbald mit 80 Sachen auf dem breiten Fluss der Sonne entgegen – eine Szene wie aus einem Film. Schwer zu sagen, wer am Ziel mehr strahlt: Tuomas, der Guide, oder Thomas, der Gast aus der Schweiz.

 

Büro Snow Games, 13 Uhr

«Es ist dieses Strahlen», sagt Jukka Hirvonen, Inhaber der Snow Games. Wir sitzen in seinem Büro im Obergeschoss, das Fenster gibt den Blick frei auf die Tannen vor dem Haus. «Wenn die Gäste zurückkommen von einem Ausflug und dieses Leuchten im Gesicht haben wie du jetzt, dann weiss ich, dass wir einen guten Job machen. Und das wiederum macht mich glücklich.» Zu seinem Winterglück gehöre aber noch mehr: «Mit meinen Kindern Lego spielen. Mit dem Motorschlitten zur Arbeit fahren. Zuhause ankommen und in die Sauna gehen – sie ist immer vorgeheizt und bereit. Ah, und die Eislochsauna: Du steigst aus dem Wasser und fühlst dich wie neugeboren, das kann ich kaum beschreiben.»

Jukka ist kein «Hiesiger», auch er ist hergezogen und wohnt jetzt mit seiner Familie im vierzig Kilometer entfernten Aska. «Es dauert ein bisschen, bis man hier oben richtig dazugehört. Aber wenn sich die Leute einmal geöffnet haben, sind sie deine besten Freunde.» Überhaupt könne er sich nicht vorstellen, diese Gegend je wieder zu verlassen: «Die Natur ist grossartig, und ich mag die Ruhe – gerade im Winter. Es ist eine entspannte Zeit.» Müsste er eine Rangliste aufstellen für die beliebteste Winteraktivität, die Husky-Safari stünde ganz oben. «Bei unseren Gästen auf jeden Fall», präzisiert Jukka. «Bei den Einheimischen sieht es anders aus: Schlittenhunde gehören nicht zu unserer Tradition, sie sind erstin den letzten Jahrzehnten aufgekommen. Im Tourismus spielen sie eine wichtige Rolle, in unserem Alltag dagegen kaum.»

 

O ja, jetzt verstehe ich, warum diese Hundeschlittenfahrten immer so schnell ausverkauft sind.

Artic Huskyfarm, 10 Uhr

Das Geheul geht durch Mark und Bein, die Hunde flippen fast aus. Eingeschirrt stehen sie bereit, zu ihrem Missfallen sind sie angebunden. «Sie wollen endlich losrennen», sagt Guide Katri, «ihr Gebell ist reine Vorfreude». Mein Gespann wird angeführt von zwei hübschen Chefs, einer von ihnen schenkt mir einen unwiderstehlichen Blick aus blauen Augen. Dabei bleibt gar keine Zeit für Romantik: Schlitten fassen und auf die Bremse stehen, am besten mit beiden Füssen und dem ganzen Gewicht, heisst die Devise für die Gespannlenker. «Sonst ist euer Team nach dem Start samt Schlitten weg, und ihr steht allein da.» Das Gebell steigert sich, als die Hunde losgebunden werden, dann schallt der Befehl «Go!», durch die klare Winterluft, es gibt einen kräftigen Ruck, und schon setzt sich das Gespann samt Schlitten in Fahrt, und wie! Die Hunde rennen sich die Lunge aus dem Leib; sie scheinen das Ganze für einen Wettkampf zu halten oder wollen wenigstens die Gruppe vor uns einholen. Meine Aufgabe als «Musher» verlangt bei diesem flotten Tempo Konzentration: Vor der Kurve bremsen. Bei einer rechten Kurve nach rechts lehnen. Bei einer linken Kurve nach links lehnen. Den Schlitten mit beiden Händen halten und nie, wirklich nie loslassen.

Das Lichtspiel der Sonne, die sich jetzt zwischen die Bäume schiebt und den Wald zum Märchenwald macht, nehme ich nur aus den Augenwinkeln wahr. Mit der Zeit beruhigen sich die Tiere, verringern gar das Tempo ein wenig, die Strecke wird flacher, die Musherin entspannter, links und rechts sausen die verschneiten Tannen vorbei, vor mir saust der Schlitten, ganz vorne sausen die Hunde. O ja, jetzt verstehe ich, wieso die Hundeschlittenfahrten immer so schnell ausverkauft sind. Als der vordere Musher das Zeichen zum Abremsen gibt, stehe ich mit aller Kraft auf die Bremse. Sofort drehen sich sechs Hundeköpfe nach mir um, zwölf Hundeaugen mustern mich empört, zwei davon sind blauer als der Himmel. Kaum habe ich einen Fuss von der Bremse genommen, rennt mein überaus motiviertes Team wieder los. Mit jedem Meter habe ich meine sechs Schnellen besser im Griff.

Als wir bei der Huskyfarm ankommen, bin ich mindestens so enttäuscht wie meine Crew. Aus, vorbei. Schluss. Schade, schade. Zum Trost gibt es noch einmal diesen Blick von Blauauge. Und ich bedaure fast, dass sich die Schlittenhunde im finnischen Alltag noch keinen Platz erobert haben.

In Lappland gibt es weit mehr Rentiere als Menschen.

Rentierfarm Kopara, 16 Uhr

Anders die Rentiere: Sie verdienen das Prädikat «alteingesessen». In Lappland gibt es weit mehr Rentiere als Menschen, nämlich rund 200000. Nach den energiegeladenen Schlittenhunden wirken die Tiere, die wir auf der Farm Kopara füttern dürfen, geradezu gemütlich. «Der Schein trügt», weiss Anssi, Rentierzüchter und Mitbesitzer der Farm. «Zehn Minuten nach der Geburt steht ein Rentierbaby auf, nach einer Stunde kann es laufen, und schon nach einem Tag kann es schneller rennen als du je in deinem ganzen Leben.» Anssi trägt traditionelle Samen-Kleidung, traditionelle Stiefel, eine traditionelle Fellkappe und bewegt sich souverän im modernen Tourismus. Sein Englisch ist ebenso up to date wie seine Website. Wir sitzen auf Rentierfellen ums Feuer in der Kota und hören ihm zu, wie er mit markigen Worten erzählt, dass die Bären just dann aus dem Winterschlaf erwachen, wenn die Rentierbabys geboren werden. «Sorry, aber da hat die Natur sich zu wenig überlegt», sagt er. «Könnt ihr euch vorstellen, was dann hier los ist?» Mit seiner unverblümten Art und seinem trockenen Witz hat Anssi das Publikum sofort auf seiner Seite. Etwa, wenn er schildert, wieso sein Volk die Mücken mag: «Sie treiben die Rentiere in Gruppen zusammen, so können wir unsere Tiere am Ohr markieren. Leider sind die Mücken noch nicht so schlau, dass sie die Rentiere gruppenweise nach Besitzer ordnen.» Schallendes Gelächter erfüllt die Kota. «Ihr werdet auf der Schlittenfahrt bald ein paar Rentiere in freier Natur sehen», verspricht er dann und grinst: «Es sind meine. Übrigens: Jedes Rentier hat einen Besitzer, selbst wenn es frank und frei durch den Wald spaziert.» 10 Minuten später fahren wir im Rentierschlitten in den Wald hinein, warm eingepackt in eine Decke, und beobachten die Tiere, die sich von den Schlitten nicht stören lassen und das Heu am Boden knabbern. Ein magischer Moment!

«Klar kannst du reich werden als Rentierzüchter», erklärt mir Anssi später. «Nicht im Sinn von Geld natürlich. Reich an Erlebnissen. Wenn ich im Winter auf meinem Motorschlitten in den Wald fahre um nach meinen Tieren zu schauen, und niemand weiss, wo ich genau bin, bin ich der glücklichste Mensch der Welt.» – «Und die lange Dunkelheit?» – Anssi verwirft die Hände: «Welche Dunkelheit? Ehrlich gesagt, halte ich das für eine Legende. Es ist gar nie richtig dunkel hier – der Schnee hellt alles auf. Wir haben die Sterne, den Mond, das Nordlicht. Und prima Augen. Die passen sich sofort den Lichtverhältnissen an. Ich auf jeden Fall sehe, was ich sehen muss. Auch nachts.» Sagt’s, schwingt sich auf sein Motorschlitten und braust der Dämmerung entgegen.

«Meine Gäste helfen mir, das Staunen zu bewahren.»

Konferenzraum Jänkä, 18 Uhr

Das Plakat ist ein Hingucker: Ein weisses Rentierkind mit rotem Geweih steht frontal vor der Betrachterin. Es weist auf die Ausstellung der Kunstschaffenden aus Lappland im Hotel Luostotunturi hin, gemalt hat es die einheimische Künstlerin Helena Junttila. Sie führt mich zum Original, das hier im Konferenzraum hängt und viel grösser ist als sie selbst: «Ich fuhr an einem Abend über die Landstrasse, als plötzlich vor mir ein Rentier mit einem Jungen die Strasse überquerte. In letzter Sekunde konnte ich bremsen. Da schaute mich dieses weisse Junge durch die Scheibe an. Das Bild hat mich nicht mehr losgelassen, ich musste es malen.» So ergehe es ihr oft: «Alles, was ich sehe, höre, erlebt oder geträumt habe, hinterlässt eine Spur. Dieser Spur gebe ich dann in meinen Bilder eine Farbe und eine Form.»

Acryl und Tusche sind das Hauptwerkzeug der mehrfach national und international ausgezeichneten Kunstschaffenden. Ihre Bilder waren schon in Australien, Japan oder Ungarn zu sehen, aber für sie selbst gibt es nur einen Ort, wo sie sich wohlfühlt, und das ist hier in Finnisch Lappland. «Es ist meine Heimat», sagt sie schlicht. «Nach meiner Ausbildung an der Free Art School in Helsinki bin ich sofort wieder hierhergezogen. Ich brauche die Natur, die Ruhe. Nur so finde ich die Inspiration für mein Tun.» Fördern die langen Winterabende ihre Schaffenskraft? «Das könnte man meinen, aber in Wahrheit ist das elektrische Licht schlecht, weil die Farben dann anders wirken.» Dennoch sei der Winter für sie eine intensive Zeit: «Es finden viele Ausstellungen statt, das gibt zu tun.» Ihr grösstes Glück jedoch sei von der Jahreszeit unabhängig: «Dass ich mich auf meine Kunst konzentrieren kann.»

Sternenhimmel, 20 Uhr

Ich trete den Heimweg zum Blockhaus an. Die Sterne funkeln zum Greifen nah. Die weissen Tannen ragen in den Nachthimmel. Ich denke an Anssi. Es stimmt, was er sagt: Dunkel ist das hier nicht. Und ich denke an Tarja, die aus dem Nachbarort Pyhä stammt und nun nach Jahren wieder in ihre Heimat zurückgekehrt ist: Sie veranstaltet für die Gäste des Hotels Luostotunturi regelmässig Kota-Abende, brät Lachs und Gemüse über dem Feuer und serviert ausserdem Wissenswertes aus ihrer Heimat. «Meine Gäste helfen mir, das Staunen zu bewahren», sagt sie. Kürzlich habe einmal mehr eine Touristin gerufen: «Wow, so einen Sternenhimmel habe ich noch nie gesehen!» Da habe sie einmal mehr gedacht: «Es gibt Leute, die lange dafür sparen, damit sie einmal eine Woche lang unseren Winter erleben dürfen. Und ich habe ihn einfach so – was für ein Privileg.» Ich biege in den schmalen Weg zum Blockhaus ein. Hinter den Fenstern leuchtet einladend das Licht. Wie hat es Jukka formuliert? «Der Winter ist eine entspannte Zeit.» Und was hat Juhani gefragt? «Wo gibt es hier Stress?» Nein, Stress habe ich nicht gefunden, in den ganzen sieben Tagen nicht. Dafür ungezählte Glücksmomente. Und entspannte, offene Menschen, die mich in ihr Leben schauen liessen. Sie haben mein Herz erwärmt.

nach oben